"Eine mitreißende Prosa, geschliffen, schön und geistreich", schrieb die "Sunday Times" über den Roman des irischen Autors John Banville. Es geht um das Unvermögen eines Kunstexperten, zwischen Echt und Falsch zu unterscheiden. Gleichzeitig wird in bilderreicher Sprache die Geschichte einer großen Liebe erzählt.
John Banvilles postmoderner Kunstfälscherroman "Athena" / Von Martin Halter
Athene ist die Kopfgeburt des Zeus. Als der eifersüchtige Göttervater die Titanin Metis verschluckt hatte, überfiel ihn ein Kopfweh, von dem ihn sein Sohn, der allzeit gefällige Schmied Hephaistos, mit einem Axthieb befreite; aus der klaffenden Wunde sprang, herrlich in Waffen gegürtet, die Göttin der Kunst hervor. Der Erzähler in "Athena" nennt sein Alpha und Omega nur A., er hat allen Grund zur Diskretion. Aber es geht, kein Zweifel, um die Spott- und Kopfgeburt der Kunst aus dem Geist mythologischer Imagination. Ursprung der schönen Literatur ist das Kopfweh eines brutalen Mörders. "Bei einem Mörder", sagt Nabokov (mit dessen "Lolita" diese "Athena" einiges gemein hat), "können Sie immer auf einen extravaganten Prosastil zählen."
John Banville, Literaturredakteur der "Irish Times", ist einer der glänzendsten Stilisten Irlands. Mit den Priestern und Bombenlegern, den gequälten Ministranten und feuchtfröhlichen Barden, die zur nationalen Folklore gehören, kann er freilich nichts anfangen. Das und seine Vorliebe für philosophisch-moralische Reflexionen und barocke Sprachspielereien haben ihm den Ruf eines schwierigen, jedenfalls unirischen "artist's artist" eingetragen. Dabei ist er bloß ein legitimer Nachfahr von Joyce und Beckett, der bei Thomas Mann und der deutschen Romantik in die Schule gegangen ist. In seiner surrealen Welt gibt es keinen freien Willen, nur ein schicksalhaftes Chaos, das keine traditionelle Erzählstruktur mehr erlaubt. Die düstere, somnambule Magie der morbiden Herrenhäuser und faustischen Helden wird von der fast pedantischen Sinnlichkeit der Beschreibung eher noch gesteigert. Daß Banville diese dekadente schwarze Romantik immer wieder mit subversiver Ironie aufhellt und überhaupt seine eigenen Konstruktionen fortwährend hinterrücks dekonstruiert, macht die Sache nicht weniger beunruhigend.
Die jetzt abgeschlossene Romantrilogie bedeutet für ihn einen Durchbruch. Im ersten Band, dem preisgekrönten "Buch der Beweise", erschlug Freddie Montgomery, ein ziellos dahindriftender Späthippie aus gutem Hause, ein Dienstmädchen, das ihn beim Raub eines Bildes störte. Der Hammerschlag hallte wider in dem selbstquälerischen Plädoyer zu Händen seiner Richter. Daß ihm ein Kunstwerk aus dem siebzehnten Jahrhundert wertvoller erschien als ein Menschenleben, mag er nicht bereuen; seine wahre Schuld war vielmehr das "Versagen seiner Vorstellungskraft", und die hybride Schöpfung neuen Lebens ist seine selbstauferlegte Buße. Im zweiten, bislang noch nicht übersetzten Band, Ghosts", hatte Montgomery sich in zwölfjähriger Haft zum Kunstgeschichtler fortgebildet und nach neuerlichem Schiffbruch auf einer Insel halbwegs resozialisiert. Jetzt holen ihn - er nennt sich mittlerweile Morrow, weil der Name so verheißungsvoll an ein Morgen (und an Wells verrückten Schöpfer) erinnert - die Schatten der Vergangenheit ein.
A. ist die Adressatin dieses langen Liebesbriefs und seine Kreatur, eine Kopfgeburt nach allen Regeln der Kunst. Erinnerung hat sich zwar zu melancholischer Nostalgie verflüchtigt; aber in der komplizierten Liturgie des Fleisches ersteht die alte Schuld wieder auf. Wenn seine rätselhafte Geliebte sich von ihm auspeitschen läßt, ist jeder Hieb ein lustvolles Echo jener ersten Hammerschläge; freilich - und das ist seine Rettung - ästhetisch sublimiert in kunstvoll arrangierten Ritualen sadomasochistischer Ekstase. Daß er die ungeheure Tat jederzeit wieder begehen könnte, verleiht seiner Beichte einen elegischen Unterton: Alles, auch seine amour fou, war Lug und Betrug. "Eine Illusion, auf die rasch die Desillusionierung folgt, das ist, in aller Kürze, die Geschichte unserer Kultur. Oh, welche Stümperei!"
Banvilles Erzähler führt uns, bald schweigsam und stockend, bald verdächtig geschwätzig, durch das Labyrinth seiner finsteren, mythengesättigten Obsessionen. Nur im Kopf des Autors (und des aufmerksamen Lesers) verknüpfen sich die losen Fäden zu einem Prunkteppich, der reich, manchmal überreich bestickt ist mit preziösen Metaphern und Porträtminiaturen, mit aparten Worten und Adorno-Zitaten. Wie Nabokov wendet Banville - Lilian Faschinger hat seine elegante, biegsame und dabei kraftvolle Prosa ins Deutsche gerettet - viel Sorgfalt auf die Zeichnung von Licht und Schatten; wie Proust beschwört er in Sinnesempfindungen die verlorene Zeit herauf. "Es roch nach Katzen und abgestandenem Tee. Brauchen wir das alles wirklich, all dieses Lokalkolorit und so weiter? Ja, brauchen wir."
Banville spart nicht mit den Vexierspielen und komplizenhaften Fingerzeigen, den Spiegeltricks und Selbstbezüglichkeiten postmoderner Pastiches - auch auf die Gefahr hin, daß ihm alles zu barocken Bilderrätseln oder überladenen Stilleben gerät: Es ist das "erstarrte Stillstehen angesichts des Schrecklichen", die Angst des Mörders vor seinen Erinnyen. Wie ein Maler seine Farben wägt er die Worte ab, und manchmal trägt er dabei entschieden zu dick auf. "Die Spitze einer dünnen Klinge der Panik durchstach mein aufgeblasenes Bewußtsein, und das letzte Gas zischte aus dem Ballon meiner Euphorie." Aber auch diese Anflüge von Kitsch und Schwulst und das Übermaß der Metaphern gehören zu den Täuschungen und Trompe-l'oeil-Effekten, mit denen er sich und seine Furien narren will. Seine menschenscheue Phantasie nährt sich nun einmal nicht vom Leben, sondern aus seiner "Gewohnheitssünde", einem ästhetizistischen Solipsismus, der menschliche Tragödien in kunsthistorische Inszenierungen verwandelt. In seinem "Theater der Illusionen" sieht er überall Roault-Gesichter und Rodin-Posen, Magritte-Wolken und Van-Gogh-Bäume; selbst das Innere eines Krankenwagens erinnert ihn an eine Darstellung von Christi Geburt. Und auch A. ist ja keine "wahre Sie, nur eine Reihe von Zeichen". Bilder zu begutachten ist nicht Morrows Beruf, sondern auch sein Fluch. Déformation professionelle und Reflex einer höchst unzuverlässigen Erinnerung. Denn nur "in der gemalten Welt ist alle Zeit ewig gegenwärtig und aufhebbar".
Der Sachverständige erstellt Expertisen für acht gestohlene, gefälschte Bilder mit mythologischen Themen aus Ovids Metamorphosen: Ausgerechnet er, der nicht einmal Gut und Böse auseinanderhalten konnte, soll das Echte vom Falschen scheiden. Den Auftrag dazu bekam er von einem zwielichtigen Kunstsammler, der die bizarre Parade der Verfolger anführt. Da ist Inspektor Hackett, der gemütlich lauernde Detektiv, den wir schon aus dem "Buch der Beweise" kennen. "Der Pa", König der Dubliner Unterwelt, ist ein Transvestit, der proteische Verkleidungen liebt und Maulaffen feilhält. Auch die kauzige Tante Corky ist nicht die, für die sie sich ausgibt. Und A. scheint eher einem film noir als dem Olymp entsprungen: Wenn sie nicht gerade nackt ist, trägt sie, wenigstens in der trügerischen Phantasie des Erzählers ("Wie soll ich heute mein Püppchen anziehen?"), schwarze Schleier und hochhackige Schuhe; ihre Biographie ist pure Fälschung. Seit er sie in dem verlassenen Haus in der Rue Street zum ersten Mal durch ein Schlüsselloch sah, führt sie ihn immer tiefer in jene dunklen Bezirke, wo Ekel und Lust, Liebe und Verrat, Lüge und Wahrheit ineinander verschwimmen.
Daß alle Künstler Alter und Namen Banvilles tragen - Johann Livelb, Giovanni Belli, Job van Hellin sind lauter Anagramme -, mag noch einer der "schmutzigen kleinen Witze" sein, die auch zweitklassige Barockmaler nicht verschmähten. Aber Banville spinnt sein Netz mythologischer Travestie noch feiner: Jede Metamorphose nimmt Motive der Erzählung ikonographisch vorweg; jeder Gestaltwandel ist Rache für Peepshows und blasphemische Vergewaltigungen. Nicht zufrieden damit, Bilder in Erzählung und Schlüssel zu ihrer Entzifferung zu verwandeln, schmuggelt Banville in die Gutachten auch listige Selbstkritiken ein. So rühmt er an der "Verfolgung Daphnes" eine "Atmosphäre ungezügelter, wenn auch feinsinniger Lüsternheit", leider werde das Erhabene "dem Spektakulären und dem vulgären Effekt geopfert".
In der Tat fehlt es auch "Athena" - natürlich ist "Die Geburt der Athena", wie der betrogene Experte am Ende erfährt, das einzig echte Bild - an der "Vornehmheit der Absicht und Einfachheit der Ausführung". Aber soll man einem Arcimboldo manieristisches Überraffinement vorwerfen, wenn er doch selber schon alle Einwände vorwegnimmt und sich virtuos anverwandelt? "Alles ist wahr. Nichts ist wahr", hieß es am Ende des "Buchs der Beweise". "Nur die Scham bleibt." Und die Kunst, mag sie auch falsch sein und der Betrüger ein Opfer ("Die Signatur ist alles"). Morrow ist weniger ein Pygmalion, der sich durch Kunst von seinen Albträumen erlöst, als der einäugige Zyklop Jan Vibells, der ohnmächtig seine geliebte Nymphe umkreist. Und Banville ist kein Zeus. Aber seine Kopfgeburt "Athena" ist schon ein kleines Meisterstück im Museum der Postmoderne.
John Banville: "Athena". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Lilian Faschinger. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 1996. 285 S., geb., 39,80 DM.
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