Ein gescheiterter Autor verliert am 11. September alles, was ihm am Herzen liegt: Seine Frau verlässt ihn, sein Buch floppt, der Buchladen, in dem er sein Geld verdient, liegt in Trümmern. Da erhält er den lukrativen Auftrag, die Memoiren eines Mannes zu schreiben, der genauso heißt wie er und ansonsten sein genaues Gegenteil ist: Ein Internetmogul, Erfinder des Algorithmus, der die totale Überwachung ermöglicht und unser aller Leben verändert. Autobiografie, Familiengeschichte, Ghostwriting für Anfänger, Silicon-Valley-Historie, internationaler Thriller, Sexkomödie - Buch der Zahlen ist ein überschäumendes Buch und in Amerika Kult.
Californication für Fortgeschrittene: Joshua Cohen erzählt in seinem aberwitzigen Roman "Buch der Zahlen" vom Aufstieg und Niedergang des Personalcomputers
Dass Joshua Cohen zu den wichtigsten amerikanischen Gegenwartsautoren zählt, hat sich inzwischen auch in Deutschland herumgesprochen. Aber welch überragende Bedeutung er für die literarische Reflexion der von Amerika über die ganze Welt gekommenen Internetgegenwart hat, das ist vielleicht für manche noch zu entdecken. Sein 2015 erschienener und nun übersetzter Mammut-Roman "Book of Numbers" bietet dafür die beste Gelegenheit und wird keinen Zweifel mehr daran lassen.
Um eine erste Einordnung dieses Romans zu geben, könnte man sagen: Er ist so etwas wie "The Circle" für Leute mit Gehirn. Immerhin, Dave Eggers hat es mit seinem Buch vielleicht geschafft, mehr kritische Aufmerksamkeit gegenüber dem großen Google zu erzeugen. Doch Joshua Cohens Roman lässt die reichlich plakative und geheimnislose Fiktion von Eggers schon auf den ersten hundert Seiten weit hinter sich: Er ist so viel witziger, schärfer, überraschender, spannender - und mit über siebenhundert Seiten freilich auch komplexer. Im Grunde enthält er gleich mehrere Bücher.
Aber der Umfang muss hier, im Gegensatz zu vielen anderen postmodernen Romanen, nicht abschrecken. Und er erscheint sofort gerechtfertigt, wenn man noch dazu sagt, was dieser Roman vorhat. Nicht weniger nämlich, als die Geschichte des Personal-Computers von etwa 1971 bis 2011 zu erzählen und alle Revolutionen und Niedergänge, die damit verbunden sind: Programmiersprachen, Hardware, Software, E-Mail, Suchmaschinen, Kabellosigkeit, Cloud, New Economy, Buchkrise, Zeitungskrise, Überwachungskrise.
Wer nun denkt, das würde eine recht trockene Schilderung, liegt falsch. Denn Joshua Cohen erzählt das nicht anhand eines allwissenden Chronisten, sondern maximal perspektiviert. Um die Ambivalenz des Netzzeitalters in krassesten Gegensätzen auszustellen, hat er sich eine Doppelgängerfiktion einfallen lassen, die an Motive der Romantik, Nabokov oder auch Philip Roth erinnern mag: Das Buch handelt von zwei etwa gleichalten Männern, geboren Anfang der siebziger Jahre, deren Leben sich nicht unterschiedlicher hätten entwickeln können. Der eine wird Computer-Guru und Chef eines großen Unternehmens, das hier "Tetration" heißt, der andere Schriftsteller jüdischer (Familien-)Geschichten, Ghostwriter von Erzählungen Holocaustüberlebender, freier Journalist. Und beide tragen den Namen ihres Erfinders: Joshua Cohen. Welcher Figur der Autor nähersteht, ist nicht schwer zu erraten, auch weil es einige biographische Parallelen gibt. Aber vom jüngst so gehypten Genre des Memoir ist das Buch denkbar weit entfernt, es ist vielmehr die Parodie des Memoir-Kults.
Die Schriftstellerfigur liefert die Rahmenerzählung des Buches, zurückblickend am Ende des Jahres 2011 - und diese Figur ist von Grund auf angeekelt von dem, was sich für sie als kultureller Niedergang darstellt, insbesondere einer der Buchkultur, von welcher der Roman auch zentral handelt. "If you're reading this on a screen, fuck off", so lautet ihr erster Satz, der wohl besser unübersetzt bleibt. Der Grund für die Frustration fällt für diesen Erzähler mit der Katastrophe des elften September 2001 zusammen, die ihm nicht nur einen geliebten Menschen raubt, sondern auch sein just zu diesem Zeitpunkt veröffentlichtes Buch marginalisiert: "Mein Buch wurde zerstört", schreibt er, "mein Leben hat sich nie wieder davon erholt."
Die Wendung, die das Leben des Erzählers stattdessen nimmt, ist für den Leser allerdings ein Glück. Denn erst infolge der Katastrophe lernt der Ghostwriter Cohen den Computermilliardär Cohen kennen. Und soll plötzlich dessen Lebensgeschichte schreiben, weshalb er sich bald mit ihm in Learjets um die Welt fliegen sieht und in Luxushotels von Dubai und Abu Dhabi Interviews mit dem "Großen Vorsitzenden" führt, der hier als kuriose Mischung aus Jogginghosen-Junkie und Heilsbringer dargestellt wird - in einem Satz: "So krank war er, so Ghandi."
Große Teile des Romans beruhen auf diesen Tonprotokollen, die er teils unredigiert wiedergibt. Ebenso unbearbeitet treten dem Leser dann Manuskriptteile der Biographie des Guru-Cohen gegenüber. Hier strapaziert der wirkliche Joshua Cohen (also der 1980 in New Jersey geborene) die Mittel der Metafiktion, darunter seitenweise durchgestrichenen Text, etwas arg.
Die fiktive Biographie des Computerfreaks und genialischen Programmierers indessen würde im Grunde eine eigene Rezension verdienen. Sie ist voller idiosynkratischer Einfälle und verrückter Abkürzungen (Vater und Mutter werden etwa als "V-Einheit" und "M-Einheit" bezeichnet), imitiert Code-Sprache und grenzt damit seltsamerweise ans Lyrische, dem der Autor ohnehin zugeneigt ist. Gerade in diesem Teil des Textes, der oft auch im Original hermetisch und unverständlich wirkt, zeigt sich die große Leistung des Übersetzers Robin Detje.
Eine der größten Stärken des Romans ist die ironische Erzählung davon, wie aus der kalifornischen Gegenkultur der Siebziger, zwischen Berkeley-Liebe und Stanford-Mathematik, die Ideen der Generation Hightech entstanden sind - aus Müsli wurden Memes, verkürzt gesagt, aber hier wird es eben sehr ausführlich und in mancher Hinsicht scharf erzählt.
In den späten neunziger Jahren, auf dem Höhepunkt der Dotcom-Economy, wird die Utopie dann zur Farce, mit Pokerspielen im Hotel Château Marmont, aber auch an der Börse, und diese Atmosphäre der Dekadenz vermag das Buch ebenfalls gut einzufangen.
Es ist ein Buch, dem es an Liebe und Sex nicht mangelt. Ab und zu sind regelrechte Aventiuren eingestreut, im dritten Teil auch solche, die nach Wien, Berlin und Frankfurt führen (dort mit üblen Abstürzen im Buchmessenzirkus, auch den kennt Cohen), wobei die jüdische Geschichte des Haupterzählers wieder in den Vordergrund rückt.
Die Titelanspielung auf das alttestamentliche Buch Numeri und somit die Geschichte der Israeliten in der Wüste birgt zahlreiche Deutungsansätze für das ganze Werk, die vielleicht ein Dechiffriersyndikat beschäftigen könnten. Denn auch wenn sich zumindest ein Kreis schließt und die Erzählung durch eine fiktionalisierte Variante der Wikileaks-Affäre zu einem Ende gebracht wird, bleiben dennoch viele Fragen offen in diesem großen Romankunstwerk.
JAN WIELE
Joshua Cohen: "Buch der Zahlen". Roman.
Aus dem Englischen von Robin Detje. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt 2018. 752 S., geb., 32,- [Euro].
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»Joshua Cohen ist ein ganz und gar außerordentliches Genie.« Christian Kracht»Joshua Cohens 'Buch der Zahlen' liest sich, als hätte jemand die Werke von Philip Roth zusammen mit denen von David Foster Wallace in einen Teilchenbeschleuniger geschossen.« New York Times