Die Kunstgeschichte zeigte sich vom Leben des Benvenuto Cellini, dem überragenden Skulpteur der Renaissance, gleichermaßen fasziniert wie abgestoßen: Er war Mörder, Dieb, gewalttätiger Liebhaber aller Geschlechter, sowohl Diener als auch Herausforderer von Päpsten und Fürsten, ingeniöser Künstler.In genau diesen Rollen schildert er sich in seinem legendären Lebensbericht, der »Vita«, deren besonders verstörende Stellen in späteren Ausgaben und Übersetzungen oft ausgelassen oder abgeschwächt wurden. Sicherheitshalber hat man sein Buch zur Fiktion oder zu purer Selbststilisierung erklärt.Andreas Beyer zeigt in seiner unverschämten Neuvorstellung des Lebens und Werks Cellinis entlang der »Vita«, dass die inkriminierten Passagen über das Leibliche, Geschlechtliche und sinnliche Transgressionen nicht nur verteufelt hohen Unterhaltungswert besitzen, sondern vor allem Authentizität beanspruchen dürfen. Erst dadurch wird das Profil des daseinssüchtigen Menschen Cellini wahrhaftig sichtbar: ein Künstler, der das Leben in all seinen Möglichkeiten und Facetten mit aller Gewalt an sich riss und dabei sämtliche Grenzen der Existenz sprengte.
Andreas Beyer beschreibt Cellinis Bildzeugungsakte
In Analogie zum gesunden Körper, in dem angeblich ein gesunder Geist lebt, könnte man dem künstlerischen Körper einen künstlerischen Geist zusprechen. Das legt das vor zwei Jahren bei Wagenbach erschienene Buch "Künstler, Leib und Eigensinn" von Andreas Beyer (F.A.Z. vom 2. Dezember 2022) nahe. Der in Basel lehrende Kunsthistoriker beschäftigt sich dort mit der Körperlichkeit von Kunst und Künstlern, mit Schwerpunkt auf der Renaissance. Von großartigen Trinkgelagen und üppigen Menüs ist die Rede, gefolgt von Verdauungsproblemen und anderen Widrigkeiten, von sexuellen Vorlieben, aber auch modischen Extravaganzen. Beyer entfaltet eine bisher vernachlässigte Sicht auf Künstler und auch Künstlerinnen, soweit von Letzteren einschlägige Informationen existieren.
Einer der Figuren dieser Studie, dem Florentiner Bildhauer und Goldschmied Benvenuto Cellini (1500 bis 1571), widmet Beyer nun ein eigenes Buch mit dem Titel "Cellini. Ein Leben im Furor", das am 19. September wiederum bei Wagenbach erscheinen wird. Einen Vorgeschmack bot er jetzt in der Münchner Carl Friedrich von Siemens Stiftung in einem Vortrag mit dem Titel "Der verkörperte Künstler".
Cellinis umfangreiche Lebensbeschreibung, verfasst von 1558 bis 1562, machte den fast vergessenen Künstler durch Goethes 1803 publizierte Übersetzung über die Grenzen der Kunstgeschichte hinaus bekannt - als den genialen Schöpfer der Saliera, des Salzfasses für Franz I. von Frankreich im Wiener Kunsthistorischen Museum, und des Perseus in der Loggia dei Lanzi, aber auch als Mörder, Dieb und Vergewaltiger, durchaus im Sinne oder mit Wissen des Autors, wie die neueren Editionen und Übersetzungen zeigen, indem sie auf Auslassungen verzichten. Cellini hat seine Autobiographie nicht eigenhändig niedergeschrieben, sondern, wie er im Prolog mitteilt, einem seiner Gehilfen in der Florentiner Werkstatt diktiert, während er selbst das große Kruzifix aus Marmor schuf, das sein Grab zieren sollte. Eine Parallelfügung verbindet hier das körperliche mit dem geistigen Tun. Gleich zwei Werke wurden in einem Akt geboren: Kruzifix und Lebensbeschreibung.
Das Gebären ist eines der Leitmotive dieser selbst geschaffenen Künstlerlegende: Die Werke, die Cellini ausführt, sind aus ihm geboren, sind seine Kinder. Erst im hohen Alter, als er keine Kunst mehr erschaffen kann, als er auch keine Aufträge mehr bekommt, heiratet er und zeugt ein Kind nach dem anderen. Das Erzeugen von Kunstwerken ist als Zeugen konzipiert, geht nämlich insofern einher mit dem Liebesakt, als das jeweilige Modell gleichzeitig Liebhaber oder Liebhaberin ist.
Dies machte Beyer an zwei Beispielen deutlich: In Paris entstand für Franz I. nicht nur die Saliera, sondern auch das Relief der Nymphe von Fontainebleau für das Tympanon der dortigen Porte Dorée. Für diese Nymphe diente Cellini eine junge Frau als Modell, die er sich mit allen Sinnen einverleibte und dabei auch noch körperlich misshandelte, was er selbst ganz freimütig beschrieb. Ähnlich verfuhr er mit seinem Gehilfen, Fernando di Giovanni di Montepulciano, der ihm während der Arbeit am Perseus in Florenz zur Hand ging, ihm aber auch als Modell für den Kopf der Medusa und des Perseus diente und über Jahre sein Liebhaber war. Von dessen Mutter der Sodomie angeklagt, wurde Cellini zu vier Jahren Haft verurteilt, das Strafmaß allerdings in Hausarrest abgemildert. In dieser Zeit schuf er das Kruzifix und sein Leben.
Cellinis Selbstdarstellung gerät immer wieder zur Überhöhung der eigenen Person, wobei Schilderungen, die als Fiktionen galten, heute einfache Sacherklärungen finden, wie Beyer überzeugend darzustellen wusste. So überkam Cellini beim Guss des Perseus ein hohes Fieber, das ihn völlig lähmte. Der Künstler meinte zu sterben. Diese höchst dramatische Schilderung, in der das Risiko, das mit einem Guss immer verbunden ist, noch einmal gesteigert wird, machte aus dem Gelingen einen großartigen Triumph, scheinbar auch durch Übertreibung - das war allgemeiner Konsens. Heute weiß man, dass die beim Metallguss entweichenden Dämpfe zum sogenannten Metalldampffieber führen können, Cellini also wohl eine tatsächliche Begebenheit beschrieben hat, wenn auch mit großem Pathos.
Beyer gelang es mit diesem realistischen Zugriff, neue Aspekte in Leben und Werk Cellinis hervorzuheben, gerade dadurch, dass er beide miteinander verschränkte und der Leiblichkeit einen von falscher Dezenz versperrten Raum öffnete. Ob diese Lesart der Kunst allerdings auf alle Zeiten angewendet werden kann, bleibt ebenso fraglich wie das Urteil über die Taten Cellinis, wenn er denn heute leben und agieren würde. Der Vergleich mit Otto Muehl, wie er in der Diskussion angesprochen wurde, ist durchaus legitim. Fraglich bleibt ebenfalls, ob man Cellini als Prototyp des modernen Menschen bezeichnen kann. Trotz dieser Einschränkungen hat Andreas Beyer mit seiner "Kunstgeschichte der Leiblichkeit" einen Ansatz vorgestellt, der es erlaubt, die Entstehung von Kunstwerken neu in den Blick zu nehmen. SUSANNA PARTSCH
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Ist dieses Buch zu distanzlos seinem Gegenstand, dem Leben und Werk Benvenuto Cellinis gegenüber? So fragt sich Rezensent Arno Orzessek. Und antwortet am Ende klar mit: nein. Dabei hat das Leben Cellinis es in sich, rekonstruiert er entlang der Lektüre, zumindest, wenn man die Autobiographie des Künstlers, in der dieser von zahlreichen oft nicht einvernehmlichen Geschlechtsakten und auch von drei selbst begangenen Morden sowie von seinem Stuhlgang berichtet, beim Wort nimmt. Was Andreas Beyer, stellt Orzessek klar, in seinem Cellini-Buch nicht unbedingt tut, vielmehr beschreibt er die Autobiographie Cellinis mit Verweis auf die Werner-Herzog'sche ekstatische Wahrheit und verweist darauf, dass für den Künstler sein eigener Körper und sein schöpferisches Werk nicht voneinander zu trennen sind. Tatsächlich erkläre Beyer das Leben Cellinis zu dessen zentralem Kunstwerk - wobei auch die Bildhauerei und Schmiedearbeiten des Italieners kenntnisreich beschrieben würden. Keine einfache Lektüre ergibt das im Ergebnis, gesteht der Rezensent ein, aber es lohnt sich, weil das Buch sich schwierigen Fragen stellt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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