Quando Eleonora e Chirú s'incontrano, lui ha diciotto anni e lei venti di più. Le loro vite sembrano non avere niente in comune. Eppure è con naturalezza che lei diventa la sua guida, e ogni esperienza che condividono dall'arte alla cucina, dai riti affettivi al gusto estetico - li rende più complici. Eleonora non è nuova a quell'insolito tipo di istruzione. Nel suo passato ci sono tre allievi, due dei quali hanno ora vite brillanti e grandi successi. Che ne sia stato del terzo, lei non lo racconta volentieri. Eleonora offre a Chirú tutto ciò che ha imparato e che sa, cercando in cambio la meraviglia del suo sguardo nuovo, l'energia di tutte le prime volte. È così che salgono a galla anche i ricordi e le scorie della sua vita, dall'infanzia all'ombra di un padre violento fino a un presente che sembra riconciliato e invece è dominato dall'ansia del controllo, proprio e altrui. Chirú, detentore di una giovinezza senza più innocenza, farà suo ogni insegnamento in modo spietato, regalando a Eleonora una lezione difficile da dimenticare.
Subtile Erotik: Michela Murgias sardischer Roman "Chirú" erzählt von der verrückten Liebe einer Geigenlehrerin zu ihrem Schüler.
Romane können Lebensstationen ihrer Verfasser markieren und sich dabei aus der Ferne Botschaften senden, in etwa so, wie früher Telegramme von Bahnhof zu Bahnhof geschickt wurden, über die Telegraphendrähte am Gleisrand. In ihrem raffiniert-archaischen Romanerstling "Accabadora" hatte die sardische Autorin Michela Murgia die Entwicklung ihrer Heldin mit folgenden Worten enden lassen: "Viele von den Dingen, die sie glaubte an dem Ufer zurückgelassen zu haben, von dem damals das Schiff nach Genua abgelegt hatte, kamen eins nach dem anderen zu ihr zurück, wie Treibholz, das nach einer Sturmflut an den Strand gespült wird." Echoartig sendet ihr neuer Roman "Chirú" nun seinen Anfangssatz zurück: "Chirú kam zu mir wie die Holzstücke an den Strand, geschliffen und verbogen, als Überrest eines langen Treibens."
Menschen und Erinnerungen als Treibholz, dem Wollen und Wirken der Gezeiten ausgeliefert: Den maritimen Bilderfundus bringen beide Romane zu voller Geltung. Die abermalige Verwendung der Metapher betont jedoch auch eine Veränderung: Während "Accabadora" das Heranreifen des Mädchens Maria in der Obhut einer Sterbehelferin nach altem sardischen Brauch beschrieb, steht Eleonora, die Erzählerin von "Chirú", mit Ende dreißig im vollen modernen Leben. Die Schauspielerin feiert internationale Erfolge und genießt in Cagliari, der größten Stadt Sardiniens, eine selbstbestimmte urbane Existenz. Sie wird ihrerseits Erzieherin von Chirú, einem siebzehnjährigen Geigenschüler, dessen Entwicklung sie begleitet.
Chirú bittet sie selbst darum. Keck tritt er in Eleonoras Leben, und mit ihm wird der Leser in diese Welt eingeführt, diejenige einer geschmackvollen, gutgekleideten und wählerischen Frau, die das soziale Treiben durchschaut. Glücklicher ist sie darüber nicht geworden, wie Chirú pointiert festhält: "Du bist unglücklich mit Klasse, sagen wir es so." Grund der Melancholie ist allerdings nicht nur eine illusionsfreie Sicht auf die Gesellschaft, sie nährt sich mehr noch aus familiären Verstrickungen, von denen Eleonora sich befreien musste: Den herrschsüchtigen Vater, der ihre Kindheit und Jugend zur Hölle gemacht hat, konnte sie, kaum volljährig, ins Gefängnis bringen; mehr als Andeutungen erhalten wir nicht. Detailliert werden hingegen eisige Kindheitserinnerungen geschildert, die, wie der Roman als Ganzes, schillern. Zum Beispiel die Jahrmarktsszene: Der achtjährigen Eleonora wird der Kauf eines begehrten Spielzeugs verweigert, und sie begreift plötzlich die Natur des "Getriebes von Belohnung und Strafe", welches der Vater konstruiert hat; es ist das Ende ihrer Kindheit und der Beginn des Misstrauens. Ist die archetypische Schroffheit der Szene ein Beispiel für edle Einfalt und stille Größe oder belegt sie eher einen leichten Hang zum Kitsch? Am Anfang des Romans neigt man zur ersten, am Ende eher zur zweiten Antwort.
Klarer ist der Fall in den Gesellschaftsschilderungen: Die Initiation in den Kulturbetrieb ist von gnadenlos-komischer Klarsicht. Man erinnert sich mit Genuss daran, dass Murgia in "Camilla im Callcenterland" ihre Erfahrungen als Staubsaugerverkäuferin zu einer bitterkomischen Satire verarbeitet hat und dabei viel Sinn für abgründige Dialoge gezeigt hatte. In "Chirú" wird etwa die Party eines römischen Produzenten mit fein-saurer Ironie geschildert. Das Ereignis ist eine "genauestens auf ihre fröhliche Wirkung hin kalkulierte Karawanserei aus Farben und Musik": "Während wir weiter hineingingen, wies ich ihn diskret auf die Flut von Presseleuten auf der Suche nach Kontakten hin, von Kritikern, Zulieferern verschiedener Presseerzeugnisse, und vor allem auf die Dutzende kräftiger, junger Männerkörper, zweifelhafte Talente mit unzweifelhaften Deltamuskeln, die wahllos und in alle Richtungen ihre Verführungskraft verströmten." Zu diesem Anlass lehrt Eleonora Chirú, die "Liturgie der Verstellung" zu durchschauen und Kleidung wie ein Buch zu lesen, das die soziale Stellung des Trägers preisgibt. Die Balzacsche Konstellation - die soziale Initiation eines jungen, ehrgeizigen Epheben durch eine ältere Mentorin - liefert die schwunghaftesten Szenen des Romans.
Sie werden treffend gezeichnet, stehen aber nicht im Zentrum des Romans. Weit wichtiger, weit heikler auch ist die Beziehung, die sich zwischen Lehrerin und Schüler entspinnt. Das Begehren ist von Anfang an massiv präsent. Schon die ersten Beschreibungen nimmt Eleonora liebenden Auges vor: "Sein längliches und noch unfertiges Gesicht unterschied sich nicht sehr von denen Tausender anderer Jugendlicher, die ich im Leben gesehen hatte: ein Schmelztiegel von im Werden begriffenen Gegensätzen, auf dem der Funke einer Identität aufleuchtete, die zwischen dem ,schon' und dem ,noch nicht' balancierte." Was erst wenig schmeichelhaft klingt, wird bald erotisch präziser: "Die dunklen Augen, das einzig Schöne, das sich an ihm bereits manifestiert hatte, waren groß und lebhaft, und sie bewegten sich ständig mit einer schamlosen Neugier, ohne jegliche Affektiertheit." Es ist die subtile Erotik des Versprechens. Eleonora verrät sogleich ihre Empfänglichkeit dafür, als ihr die Koseform Chirú entschlüpft. Die Anziehung wächst stetig, obwohl der junge Mann bald beweist, dass er geschickt und mitunter skrupellos manipuliert.
Brisant wird die Beziehung, als Eleonora im Rahmen einer Europa-Tournee nach Stockholm kommt und sich in Martin de Lorraine, den dortigen Operndirektor, verliebt: einen feinen, kultivierten Mann, dessen Ironie ein aufrichtiges Interesse kaum verbirgt. Die Zweier- wird zur brisanten Dreierkonstellation: Eleonora zögert ein Wiedersehen mit ihrem Zögling hinaus, und als Chirú sie schließlich am Ende der Tournee in Florenz wiedersieht, verliert der pädagogische Eros sein Adjektiv: Es kommt zu Vereinigung und Bruch. Der Epilog schildert ein Wiedersehen auf Distanz vier Jahre später: Lehrerin und Schüler haben eine neue Rolle gefunden, die Anziehung schwelt unter der Asche weiter.
Romane wie "Chirú", die eine radikale Innensicht wählen, stehen und fallen mit der Person, die ihre Geschichte erzählt. Den Leser muss sie nicht nur durch Konsequenz bestechen, sondern in ihm auch eine besondere Emotion erzeugen, nämlich Sympathie oder Faszination - und sei es dadurch, dass sie selbst fasziniert ist wie Eleonora von Chirú. Das ist nur die eine Hälfte: Auch die Entwicklung des Charakters, die auf dieser Emotion aufbaut, muss den Leser mitnehmen. In "Chirú" gibt es zwei Phasen: Über weite Strecken taucht der Leser gern in Eleonoras Welt ein, lässt sich durch die Abgründe der Vergangenheit schrecken und von der Latenz des jungen Torsos betören. Am Ende allerdings wird überdeutlich, dass ihr Romeo "ein verängstigter und erschütterter Achtzehnjähriger, nichts weiter" ist: Sie sieht es, bleibt aber in ihren Emotionen gefangen. Für das Wiedersehen vier Jahre später gilt das noch mehr: Die Sentimentalität der Heldin fließt aus den Zeilen wie schmelzendes Eis aus der Waffel, obwohl die Situation wenig Anlass dazu bietet.
Aber das ist vielleicht nur eine falsche Note am Schluss. Denn Michela Murgia belegt abermals dass sie packende Geschichten erzählt, einen Sinn für aberwitzige oder doppelbödige Dialoge hat und es versteht, ihre Leser für sardische Charaktere von universellen Maßen einzunehmen. "Chirú" ist ein schöner, abgründiger Roman, der melancholisch der "flüchtigen Grazie" der Jugend und den Gefahren ihres Sirenengesangs nachspürt.
NIKLAS BENDER
Michela Murgia: "Chirú".
Roman.
Aus dem Italienischen von Julika Brandestini. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2017. 208 S., geb., 20,- [Euro].
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