Was gestern Science Fiction war, ist heute Lebenswirklichkeit.
Menschen, die sich nie in Fleisch und Blut treffen,
leben miteinander im "Second Life" einer virtuellen
Welt. Verbunden über zahlreiche Internetdienste schöpfen
sie neue Formen von Gemeinschaft und Gesellschaft.
Alte Menschen in Japan verlassen sich im Alltag auf ihren
Androiden, Roboter im Nahen Osten durchsuchen Verdächtige
nach Sprengstoff, andere patroullieren im Irak
und geben sich selbst Feuerbefehl.
Komplexe Technologien haben die Beziehungen zwischen
den Menschen radikal verändert. Sie haben Lebenswelten
entstehen lassen, die uns fremd vorkommen,
auch wenn wir selbst zu ihren Protagonisten gehören.
Alexander Knorrs Cyberanthropologie nimmt diese hochinteressanten
Phänomene in den Blick und beschreibt
ihre Auswirkungen auf den Menschen und die neuen
online-Gesellschaften
Menschen, die sich nie in Fleisch und Blut treffen,
leben miteinander im "Second Life" einer virtuellen
Welt. Verbunden über zahlreiche Internetdienste schöpfen
sie neue Formen von Gemeinschaft und Gesellschaft.
Alte Menschen in Japan verlassen sich im Alltag auf ihren
Androiden, Roboter im Nahen Osten durchsuchen Verdächtige
nach Sprengstoff, andere patroullieren im Irak
und geben sich selbst Feuerbefehl.
Komplexe Technologien haben die Beziehungen zwischen
den Menschen radikal verändert. Sie haben Lebenswelten
entstehen lassen, die uns fremd vorkommen,
auch wenn wir selbst zu ihren Protagonisten gehören.
Alexander Knorrs Cyberanthropologie nimmt diese hochinteressanten
Phänomene in den Blick und beschreibt
ihre Auswirkungen auf den Menschen und die neuen
online-Gesellschaften
Ein neues Feld für Ethnologen: Alexander Knorr nimmt uns als Protagonisten virtueller Lebenswelten in den Blick
Bis in die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts hinein haben Ethnologen sich nahezu ausschließlich mit den technisch und ökonomisch rückständigen Gesellschaften außerhalb der großen urbanen Agglomerationsräume des Westens befasst. Die vermeintliche Archaik dieser Kulturen faszinierte in dem Maße, in dem die Industrialisierung und Modernisierung der europäischen Gesellschaften voranschritt.
Das hat sich allerdings in den letzten Jahrzehnten grundlegend gewandelt. Denn an den revolutionären neuen Kommunikationstechnologien nehmen heute auch zahlreiche indigene Kulturen teil. Da es zu ihrer Einführung nur relativ geringer infrastruktureller Maßnahmen bedarf, haben sie gerade in abgelegeneren Regionen einen regelrechten Entwicklungssprung bewirkt. Die Mobiltelefonie ist inzwischen selbst in die Zonen weit verbreitet, deren Bevölkerung noch bis vor wenigen Jahrzehnten in vollständiger Isolierung lebte. Die Inuit des hohen Nordens verwenden bei der Jagd auf Robben und Eisbären heute auch satellitengestützte Navigationssysteme. In Indonesien setzen ethnische Gruppen ihre Kriege auf Internetplattformen fort. Neuseeländische Maori-Aktivisten blockieren die Websites der dänischen Firma Lego, weil sie sich durch deren Spielzeugserien in ihren religiösen Gefühlen verletzt fühlen. Nordamerikanische Indianer verwenden das Netz zu einer idealisierenden Selbstdarstellung ihrer eigenen Kulturen, und indische Ureinwohnergruppen suchen es zur Wiederbelebung ihrer Traditionen zu nutzen.
Ethnologen können sich daher heute nicht mehr damit begnügen, ihre Daten in geduldiger teilnehmender Beobachtung zu erheben. Sie müssen sich auch diesen neuen Herausforderungen stellen. Eine weitere Subdisziplin des Faches ist im Entstehen begriffen. Ihre Vertreter bezeichnen sie als Cyberanthropology und wollen damit wohl auch sprachlich zum Ausdruck bringen, dass sie mit der alten Völkerkunde nicht mehr viel zu tun hat. Alexander Knorr zeichnet in seiner gleichnamigen Abhandlung die Entstehungsgeschichte dieser neuen Teildisziplin nach. Dabei lässt er sich freilich allzu oft von seiner eigenen Begeisterung mitreißen. Vieles wird mit großer Liebe zum Detail dargelegt. Anderes dagegen oft nur angesprochen.
Die Anfänge der Cyberanthropology lassen sich nach Knorr bis zu der in den vierziger Jahren begründeten Kybernetik des amerikanischen Mathematikers Norbert Wiener zurückverfolgen. Um den Begriff ist es heute zwar ruhig geworden. Doch legten Wiener und seine Anhänger mit ihren Überlegungen zu den Steuerungsmechanismen von Systemen auch die theoretischen Grundlagen für die spätere Computertechnologie. Nur wenig bekannt ist, dass sich an den Diskussionen seines Kreises schon früh bekannte amerikanische Kulturanthropologen wie Clyde Kluckhohn oder Gregory Bateson beteiligten. Über die Systemtheorie des Soziologen Talcott Parson können auch Verbindungen zu Clifford Geertz' Kulturtheorie und zu dem von Roy Rappaport entwickelten kulturökologischen Ansatz nachgewiesen werden.
Eine weitere Inspirationsquelle der Cyberanthropology sieht Knorr in der in Deutschland nur wenig bekannten Cyberpunk-Bewegung, die in den achtziger Jahren ihren Höhepunkt erlebte. Ihr werden neben einigen bedeutenden amerikanischen Science-Fiction-Autoren auch kommerziell so erfolgreiche Filme wie "Blade Runner", "Total Recall" oder "Terminator" zugeordnet.
Dabei handelte sich um düstere Nahzukunftsvisionen, die um das Verhältnis von Mensch, Maschine und Robotronik kreisen und meist apokalyptische Züge aufweisen. Es bedurfte nur noch einer Verbindung dieses Genres mit den neuen digitalen Kommunikationstechniken, und schon war eine neue Welt erschaffen: der virtuelle Kosmos moderner Computer-Rollenspiele. Neben den bereits erwähnten Verwendungen des Internets in regionalen und globalen Netzwerken zählen gerade sie heute zu den bevorzugten Gegenständen der Cyberanthropology. Ihnen kommt auch deshalb ein privilegierter Platz zu, weil sie das methodische Rüstzeug zu ihrer Analyse gleich selbst mitliefern. Computer-Rollenspiele bilden nämlich gewissermaßen das Grundmodell für die komplexen Steuerungsmechanismen, die den Interaktionen zwischen Mensch und Datentechnologie zugrunde liegen.
Sieht man aber etwas genauer hin, dann gelangt man bald zu der Feststellung, dass sich die Untersuchungsfelder der klassischen und der futuristischen Variante des Fachs weit ähnlicher sind, als man zunächst glauben möchte. Auch die Vertreter der Cyberanthropology widmen sich der Untersuchung von mehr oder weniger geschlossenen Gemeinschaften, die nicht nur einen festen Set von Werten und kulturellen Orientierungen, sondern auch einen bestimmten Lebensstil miteinander teilen. Von den "Face to Face"-Gesellschaften der klassischen Ethnologie unterscheiden sich diese Gruppen zwar darin, dass sich ihre Mitglieder nicht persönlich kennen, doch sind sie dafür durch das "Interface" miteinander verbunden, das ihnen den regelmäßigen Austausch von Informationen und gemeinsame Aktivitäten erlaubt. Alexander Knorr hat selbst über Jahre am Alltagsleben einer solchen "User-Community" teilgenommen, die sich die Modifikation und Verbesserung eines beliebten kommerziellen Computerspiels zum Ziel gesetzt hatte. Seine Beschreibung der viele Stunden täglich gleichzeitig über E-Mails, Echtzeit-Chat-Dienste, Weblogs und Internettelefonie miteinander in Kontakt stehenden Mitglieder dieser Gemeinschaft zeigt, dass sie mit den von Ethnologen untersuchten Gesellschaften noch eine weitere Eigenschaft teilen: nämlich ihre Fremdheit in Relation zum Standpunkt des Betrachters.
Leider scheint der Autor dem Sprach- und Wertekosmos der von ihm untersuchten Gemeinschaft, selbst noch zu sehr verhaftet als dass er bereits den notwendigen Abstand hätte aufbringen können, dieses geschlossene Universum auch den Lesern zugänglich zu machen, die mit dem Lebensstil und der Mentalität juveniler Netzgemeinschaften nicht vertraut sind.
Immerhin wird nach der Lektüre des Buches verständlich, weshalb James Camerons "Avatar" von 2009 schnell zu einem der kommerziell erfolgreichsten Spielfilme aller Zeiten werden sollte. In der von blauhäutigen materiellen Verkörperungen der Filmprotagonisten bewohnten Landschaft des fernen Planetenmonds Pandora spiegeln sich die Phantasiegebilde und ausgedachten Räume wider, die sich die Anhänger von "Second Life" und anderen Computerspielen mit Hilfe der modernen Datentechnologie heute im eigenen Wohnzimmer erschaffen können.
Zugleich erfährt in "Avatar" die Vorstellung eines einfachen Naturvolks, das noch ganz im Einklang mit sich selbst und seiner natürlichen Umgebung lebt, eine unerwartete Wiederauferstehung. Ganz so zufällig ist sie aber vielleicht doch nicht. Denn wie Alexander Knorr uns wissen lässt, hatte an der Konzeption des Filmes auch eine bekannte amerikanische Ethnologin als Beraterin mitgewirkt.
KARL-HEINZ KOHL.
Alexander Knorr: "Cyberanthropology".
Edition Trickster im Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2011. 192 S., br., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Nein, mit der herkömmlichen Völkerkunde im Wald hat das nichts zu tun, oder? Am Ende der Lektüre von Alexander Knorrs Entstehungsgeschichte der neuen Teildisziplin der Cyber-Anthropologie ist sich Karl-Heinz Kohl da nicht mehr so sicher. Dass die Inuit heute satellitengestützt jagen, Indianer das Internet zur Selbstdarstellung nutzen, Maoris Cyberkriege führen und der Mensch ganz allgemein im Worldwideweb lebt und arbeitet, ist das eine, wie Kohl erkennt. Auf der anderen Seite aber, das zeigt ihm der Autor mit Liebe zum Detail und übrigens auch zu seiner eigenen Cyber-Lebensweise und -Sprache durchaus unfreiwillig, scheint der Abstand gar nicht so groß. Wie gehabt, stellt Kohl fest, handelt es sich bei den Untersuchungsfeldern um geschlossene Gemeinschaften (siehe Game-Communities), die einem bestimmten Lebensstil folgen. Dass deren Mitglieder nun durch das Interface miteinander verbunden sind, statt "persönlich", ist für Kohl nur ein gradueller Unterschied.
© Perlentaucher Medien GmbH
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