Schwere Last auf drei Generationen
2023: Britta lebt im Prinzip in den Tag hinein, wenn das Geld knapp wird, sucht sie sich Arbeit. Als sie nun mit Anfang vierzig einmal mehr eine Gelegenheit ergreift und ins Immobiliengeschäft wechseln will, macht ihr ausgerechnet ihre Mutter einen Strich durch
die Rechnung. Da Britta die einzige Verwandte ist, muss sie notgedrungen von Hamburg nach München, um…mehrSchwere Last auf drei Generationen
2023: Britta lebt im Prinzip in den Tag hinein, wenn das Geld knapp wird, sucht sie sich Arbeit. Als sie nun mit Anfang vierzig einmal mehr eine Gelegenheit ergreift und ins Immobiliengeschäft wechseln will, macht ihr ausgerechnet ihre Mutter einen Strich durch die Rechnung. Da Britta die einzige Verwandte ist, muss sie notgedrungen von Hamburg nach München, um sich um eine adäquate Unterbringung für ihre Mutter zu kümmern. Dass sich das als wesentlich schwieriger erweist als zuerst angenommen, ist logisch. Britta hatte noch nie für jemanden Verantwortung übernehmen müssen. Plötzlich hat sie eine demente Mutter, Margit, mit der sie eigentlich nichts verbindet. Dass sie im Verlauf des Romans doch eine Bindung einstellt, stimmt hoffnungsvoll.
Die Autorin Claudia Kaufmann, vor allem durch ihre Arbeit bei Fernsehen bekannt, hat einen Drei-Generationen-Roman geschrieben, der nach und nach viele erschütternde Details ans Licht bringt. Einerseits erzählt sie die Geschichte von Brittas Großeltern Elisabeth und Karl und ihrer Mutter Margit, andererseits ist Britta als Ich-Erzählerin diejenige, die versucht, die losen Enden der Vergangenheit zusammenzuführen. Der Leser erfährt die ganze Geschichte, aber Britta wird bis zum Schluss warten müssen, ehe sich ihr die ganze Dramatik ihrer Familiengeschichte enthüllt.
Nationalsozialismus und Holocaust spielen eine bedeutende Rolle im Roman, der 1933 beginnt, aber auch den Krieg, die Nachkriegsjahre, die 68er und das Heute umfasst. Die Protagonisten werden realistisch und auch drastisch dargestellt. Ich fand es besonders interessant, Einblick in eine junge Familie (Elisabeth und Karl) zu gewinnen, die aus einfachsten Verhältnissen dank SA-Mitgliedschaft und „richtiger“ Gesinnung zu angesehenem Kleinbürgertum aufsteigen kann. Und welcher Preis dafür zu zahlen war.
Das Buch ist durch seine häufigen Perspektivwechsel interessant aufgebaut, man legt es tatsächlich ungern aus der Hand. Die angenehme Sprache und die fesselnde Geschichte haben mir gut gefallen. Es ist ein fiktiver Roman, der in einer sehr realen Zeit spielt und auch heutige Probleme – in diesem Fall die Demenz und ihre Auswirkungen nicht nur auf den Erkrankten, sondern auch auf das ganze Umfeld – nachvollziehbar macht. Inklusive: ein Blick hinter die Kulissen der Pflegeeinrichtung.
Wäre es nach mir gegangen, dann hätte dieser Roman auch über Karl, Elisabeths Ehemann, noch etwas mehr berichtet, oder über die Zeit, die Margit aus München evakuiert bei fremden Menschen aufwachsen musste. Auch ein Kapitel über die Goldmanns und ihr Schicksal hätte ich gern gelesen. Und zu guter Letzt wären auch die Zukunftspläne von Britta noch eines längeren Kapitels würdig, an dieser Stelle endete mir das Buch etwas zu abrupt.
Ich persönlich habe mit vielen Problemen, die im Buch angesprochen wurden, direkt oder indirekt Kontakt gehabt, sei es der Holocaust und seine Auswirkungen bis heute, sei es der Nationalsozialismus, das ausgegrenzt sein meiner Mutter, die Nachwirkungen 10jähriger Haft meines Vaters in Hitlers Zuchthäusern, sein Alkoholismus, Erkrankung und Tod meiner Mutter, Beziehungsprobleme zu meinen Töchtern und Enkeln, es gibt viele Dinge, an die mich das Buch unweigerlich erinnert hat und die bei der Rezeption von Literatur bei mir immer eine prägende Rolle spielen. Deshalb bin ich aber auch dankbar für diese Art von Romanen, die in der Lage sind, ein ganzes Panorama an Tragödien und Gefühlen zwischen zwei Buchdeckel zu bekommen. Es lässt dann auch einmal einen Perspektivwechsel bei Betrachtung der eigenen Probleme zu.
Fazit: ein interessanter Roman über drei Generationen, die in ihrer Zeit bestehen und widerstehen und es doch nicht immer schaffen, für sich die Liebe und den Erfolg zu erreichen, den sie sich wünschten. Lesenswert und von mir eine gute Empfehlung.