Ein klassisches Kolleg über den großen Krieg der Jahre 1914-18, den Krieg, der die Weichen des 20. Jahrhunderts verhängnisvoll gestellt hat - Salewskis neues Buch, ursprünglich als Vorlesung konzipiert, stellt sich nachdenklich und differenziert den Fragen zu einer europäischen Katastrophe.
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Der Erste Weltkrieg entwickelte sich allmählich zu einem Massenmord auf Gegenseitigkeit
Sönke Neitzel: Blut und Eisen. Deutschland und der Erste Weltkrieg. Pendo Verlag, Zürich 2003. 272 Seiten, 9,90 [Euro].
Michael Salewski: Der Erste Weltkrieg. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2003. 415 Seiten, 29,90 [Euro].
Das Interesse an der Geschichte des Ersten Weltkriegs hat sich in Deutschland während der letzten Jahre wieder spürbar intensiviert. Als Ergebnisse dieser neuen Tendenz der Historiographie liegen zwei Veröffentlichungen vor, deren Lektüre lohnt: Das ist zum einen die Publikation von Sönke Neitzel, die unter dem Titel "Blut und Eisen" die Entwicklung Deutschlands im Ersten Weltkrieg untersucht, und das ist zum anderen die Darstellung von Michael Salewski, die ein Gesamtpanorama des Ersten Weltkriegs entwirft.
Sönke Neitzels Studie beschäftigt sich bevorzugt - ohne darüber die politische oder wirtschaftliche Entwicklung zu vernachlässigen - mit dem militärischen Verlauf des "Großen Krieges". Angesichts des zur Debatte stehenden Untersuchungsgegenstands ist das eine mehr als plausible Vorgehensweise, die allerdings von der deutschen Geschichtsschreibung über Jahrzehnte hinweg eher gemieden wurde. Bemerkenswert erscheint, wie sachkundig und kritisch sich der Autor mit den Problemen der strategischen Führung in den Jahren zwischen 1914 und 1918 auseinandersetzt und beispielsweise im Hinblick auf die gescheiterte Offensivplanung am Ende des Jahres 1914 den "Abgesang" einer bis dahin kaum in Frage gestellten "Feldherrnkunst" diagnostiziert. Die in den Krieg führende Julikrise des Jahres 1914 und die hochgemuten Siegeserwartungen im August, der rapide Gestaltwandel der herkömmlichen Kriegführung zur menschenverschlingenden Materialschlacht und die tiefen Verwerfungen in der deutschen Gesellschaft, die erbitterten Diskussionen über Kriegsziele und Friedensversuche sowie über die Zukunft des Reiches zwischen Monarchie und Republik werden ebenso scharfsinnig wie anschaulich abgehandelt, so daß eine rundum gelungene Synthese der zentralen Probleme deutscher Geschichte im Ersten Weltkrieg geboten wird.
Ein sich davon abhebendes Ziel verfolgt Michael Salewskis Buch. Ihm liegt das Manuskript einer Vorlesung zugrunde, das der Verfasser als "eigenständige Textsorte" belassen und zum Druck gegeben hat. Diese Entscheidung ist außerordentlich zu begrüßen, hat der Kieler Historiker doch ganz offensichtlich ein brillantes Kolleg gehalten, das selbst ein so sprödes Kapitel wie das "Zur Quellenlage" ausgesprochen fesselnd zu präsentieren versteht. Zwar legt auch diese Darstellung ihren Schwerpunkt auf die deutsche Geschichte, verliert darüber aber die universale Kontur des Gesamten niemals aus dem Auge. Solches Vorgehen erlaubt dem Autor, immer wieder das Spezifische dieses historischen Großereignisses zu betonen, welches das "Ende einer Weltepoche" markiert. In dieser Perspektive kommt es dem Autor als außerordentlich problematisch vor, "die beiden Kriege zu einer Einheit zu verschmelzen und vom ,europäischen Bürgerkrieg' zwischen 1914 und 1945 zu sprechen. So ähnlich die beiden Kriege bei vordergründiger Betrachtung sein mögen, so unterschiedlich sind sie doch bei genauerem Zusehen. Sie entsprangen nicht der gleichen Wurzel, sie waren nicht kausal aufeinander bezogen und - das ist entscheidend - sie waren von einer ganz unterschiedlichen historischen ,Qualität'. Der Erste Weltkrieg ,paßt', so betrachtet, viel eher zu den Kriegen Napoleons oder auch Ludwigs XIV. als zu dem Kriegs-Verbrechen von 1939 - 1945."
An der gehörigen Verantwortung des Deutschen Reiches für den Beginn des mörderischen Ringens läßt Salewski keinen Zweifel. Seine Betrachtungen der Haltung der anderen Großmächte im Verlauf der auf die Mordtat von Sarajevo am 28. Juni 1914 folgenden Wochen legen es jedoch nahe, die Julikrise aus universaler Perspektive zu untersuchen. Daß insgesamt der überall in Europa anzutreffende Fatalismus der Zeitgenossen, die den kommenden Krieg als gleichsam unabwendbar einschätzten, für die sich zuspitzende - tatsächliche oder vermeintliche - Ausweglosigkeit der Akteure entscheidend geworden ist, betont der Autor ein um das andere Mal. Das hält ihn freilich keineswegs davon ab, die für lange Zeit "Unberührbaren" des deutschen Generalstabs einer harschen Kritik zu unterziehen, die stellenweise zu einer massiven Abrechnung gerät. Dies festzustellen darf aber nicht zu Mißverständnissen veranlassen: Dem Autor geht es mit keiner Zeile seiner literarisch überaus gelungenen Darstellung darum, als Späterlebender alles besser wissen zu wollen, sondern vielmehr darum, als Historiker das Gesamte besser verstehen zu können: "Es ist unzulässig", stellt er in diesem Sinne fest, "die Geschichte des Bismarckreiches und die der letzten Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg nur vom Ergebnis her zu beurteilen, und gerade deswegen können große historische Theorien dem Erkenntnisprozeß mehr schaden als nutzen."
Unter diesen Prämissen entziffert er, um es mit einer Rankeschen Wendung zu sagen, die "rätselhafte Hieroglyphe" des Ersten Weltkriegs so weit und so gut, wie das heute möglich ist: Von der Geschichte des Krieges und der Politik, der Wirtschaft und der Gesellschaft bis hin zu der der Mentalitäten und der Geschlechter finden die zentralen Aspekte des Untersuchungsgegenstandes ihre angemessene Berücksichtigung. Ohne die Wirkung objektiver Daten - im Bereich der Ökonomie und der Technik beispielsweise - geringzuschätzen, verweist der Autor immer wieder auf das Individuelle, Zufällige und Irrationale als ohne Zweifel geschichtsmächtige Elemente jener Jahre. Anders läßt sich auch die Tatsache nicht erklären, daß Staaten und Völker buchstäblich über ihre Kräfte hinaus weiterhin Krieg geführt haben: Zu kämpfen aufgehört haben sie erst, als sie militärisch längst besiegt waren, und sich zu ergeben waren sie erst bereit, als sie gesellschaftlich total erschöpft waren.
Der Erste Weltkrieg entwickelte sich mit voranschreitender Zeit zu einem organisierten Massenmord auf Gegenseitigkeit. In seinem abschließenden Urteil beschäftigt den Verfasser - ohne über den "historischen Rücksturz", den Europa durch den Ersten Weltkrieg erlitt, Zweifel aufkommen zu lassen - die seit den Tagen des Heraklit immer wieder aufgeworfene Frage nach der Dialektik von Krieg und Fortschritt: "Zur Bilanz des Ersten Weltkriegs werden gemeinhin auch jene Modernisierungsschübe gerechnet, die sich aus der Industrialisierung des Krieges ergeben haben. Das gilt für die Entwicklung der Bürokratie . . . , es gilt für die Fortentwicklung der gesellschaftlichen Verfassung, ein besonderer Lichtblick ist endlich die errungene Gleichberechtigung der Frauen im Wahlrecht . . . Dennoch hat der Krieg insgesamt nicht zur Modernisierung geführt, eher im Gegenteil - versteht man unter Modernisierung nicht nur bessere Autos und schnellere Flugzeuge. In Wahrheit hatte der Krieg viele Atavismen wieder aufgerührt und virulent gemacht, die vor 1914 schon als überwunden galten; zu ihnen zählten jener irrationale Chauvinismus und mörderische Antisemitismus, die schnurstracks in eine ungleich größere Katastrophe führen sollten."
KLAUS HILDEBRAND
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Beifällig, wenn auch mit manchem Einwand, nimmt Hew Strachan die Darstellung Michael Salewskis zur Kenntnis und geht besonders auf dessen Konstrukt eines deutschen "kurzen Jahrhunderts" von 1870 bis 1945 ein: der erste Weltkrieg als Mittelstück historischen Klammer, die von Napoleon zu Hitler reicht. Der Blick nach vorn, etwa wenn Salewski einen Zusammenhang zwischen Verdun und dem Einmarsch in die Sowjetunion 1941 konstruiere, "riecht nach rückwärts gewandter Prophetie", meint Strachan. Salewski konzentriere sich auf die Herausarbeitung der Ursachen des Krieges und sei eher weniger an einer Militärgeschichte interessiert - die Darstellung der Kriegsführung gelinge ihm so weniger gut als die Entwirrung der politischen Lage im Kaiserreich und in Europa. Strachan würdigt den "lockeren Ton" des Buches, der aber nicht darüber hinwegtäuschen könne, dass hier nach wie vor "Geschichte von oben nach unten" geschrieben werde - "die persönlichen Erlebnisse der Frontsoldaten oder der Fabrikarbeiter" kommen nicht vor. "Trotz allem" resümiert Strachan, "ist dies wohl die leserfreundlichste einbändige Darstellung der deutschen Beteiligung am Ersten Weltkrieg, die es derzeit gibt."
© Perlentaucher Medien GmbH
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