Der Apothekerssohn Nikolaus Marggraf, eigentlich illegitimer Sproß eines Fürsten, ist der Held von Jean Pauls "rein-komischem Pantheon". Bei alchimistischen Versuchen entdeckt Nikolaus die Kunst, Diamanten herzustellen. Über Nacht zu Reichtum gelangt, macht er sich auf die Suche nach seinem wahren Vater. Doch seine träumerische Naivität läßt die Reise zu einer närrischen Odyssee geraten. In der witzig-bizarren Realitätsferne des Anti-Helden wird - ähnlich wie in Cervantes "Don Quijote" - der Welt ein Zerrspiegel vorgehalten. Den Klassikern galt Jean Paul, der vom Publikum geliebte Einzelgänger aus der Provinz, ein wenig als Sonderling. Goethe seufzte über sein "wunderliches Wesen", Schiller erschien er gar "fremd wie einer, der aus dem Mond gefallen ist". Heute wirkt das unbekümmerte Nebeneinander von Unvereinbarem in Jean Pauls literarischem Kosmos hoch modern. Die sprachliche Originalität und gedankliche Experimentierfreude, mit der er die menschliche Selbsttäuschung entla rvt, weist weit über seine Epoche hinaus und macht den Autor zu einem der wenigen großen Humoristen der deutschen Literatur.
Jean Pauls "Komet" in einer Neuausgabe / Von Günter de Bruyn
Als unser einflußreichster Literaturkritiker sich dazu hatte verführen lassen, zwanzig deutschsprachige Romane für kanonisch zu erklären, waren unter anderen wohl auch die Liebhaber Jean Pauls und Arno Schmidts verwundert darüber, daß ihre Favoriten hier fehlten, doch konnten sie sich mit dem Gedanken trösten, daß diese Pflichtlektürenliste für den gebildeten Deutschen, der die schwülstigen "Elixiere des Teufels" einem "Hyperion", einem "Heinrich von Ofterdingen" oder einem "Siebenkäs" vorzieht, offensichtlich nicht nur literarischer Qualität, sondern auch leichter Eingängigkeit verpflichtet ist. Statt verärgert zu sein, fühlten sich die von der Auswahl Enttäuschten also wohl eher als eine Art Leseelite bestätigt. Denn wer die Schwierigkeiten, die sprachliche und erzählerische Besonderheiten oder auch humoristische Vertracktheiten bieten, nicht als Hemmschwelle, sondern als Anreiz betrachtet, wird diesen Vorschlag eines Kanons als Ausdruck des Literaturverständnisses einer auf Dauervergnügen getrimmten Gesellschaft werten, das von Lesefreuden, die erarbeitet sein wollen, nichts weiß.
Fortschrittsgläubige des neunzehnten Jahrhunderts hatten von einer künftigen Verbreiterung der Bildungsschichten auch eine Verfeinerung und Vertiefung des Kunstverständnisses erwartet, so der junge Ludwig Börne zum Beispiel, der die Hochschätzung Jean Pauls, die er in seiner Zeit vermißte, optimistischerweise in ferner Zukunft zu sehen glaubte. In seiner Gedenkrede auf den Autor des "Siebenkäs" und der "Flegeljahre" trauerte er nicht nur um den von ihm gepriesenen Verstorbenen, sondern auch um jene vielen Leser, die seine Größe noch nicht hatten erkennen können. "Aber", so fuhr er fort, "eine Zeit wird kommen, da wird er allen geboren, und alle werden ihn beweinen. Er aber steht geduldig an der Pforte des zwanzigsten Jahrhunderts und wartet lächelnd, bis sein schleichend Volk ihm nachkomme" - womit der Prophet zwar nicht gänzlich irrte, aber in seiner Begeisterung übers Ziel doch etwas hinausgeschossen war.
Denn statt des Lesevolks kamen im zwanzigsten Jahrhundert erst Stefan George und seine Jünger, die Jean Paul zur "größten dichterischen Kraft der Deutschen" kürten, aber damit nur den lyrischen Seher meinten. Es kam Eduard Berend, der Gelehrte, der sein Leben ganz der Jean-Paul-Forschung widmete und die große, erst in unseren Tagen komplett werdende Historisch-kritische Gesamtausgabe ins Leben rief. Es kamen einige Autoren und Professoren, die Jean Paul neu als Realisten oder Surrealisten, als christlichen Denker und Philosophen oder auch als Revolutionär entdeckten, ihn im Zuge der historischen Neubewertung nach dem Zweiten Weltkrieg in der Hierarchie unserer literarischen Erbschaft höher stuften und ihn verstärkt zum Thema der Seminare und Dissertationen machten, was die Flut der Sekundärliteratur über ihn anwachsen ließ.
Da aber auch die belletristischen Verlage Jean Paul immer wieder mal druckten und der Hanser-Verlag eine vortreffliche Studienausgabe sämtlicher Werke herausbrachte, die mehrere Auflagen erlebte, war in den sechziger und siebziger Jahren häufig von einer Jean-Paul-Renaissance die Rede, und die Verkaufserfolge ließen vermuten, daß sich die Prophezeiung Börnes mit Verspätung von einem Dreivierteljahrhundert doch noch erfüllt hätte: Doch sind Zweifel hier angebracht. Gäbe es eine Statistik, die statt der gekauften die gelesenen Bücher erfaßte, würde man sicher zu der Erkenntnis gelangen, daß auch an der Schwelle des neuen Jahrhunderts das inzwischen zahlreicher gewordene Lesevolk den "Hesperus"-Autor noch nicht erreicht habe - und ihn wahrscheinlich, wie das Lächeln des Wartenden andeuten könnte, auch nie erreichen wird.
Denn er hat wohl nicht, wie Börne meinte, für alle geschrieben, sondern nur für jene, die neben seinen immensen Stärken auch seine Marotten und Schwächen lieben und sich deshalb auch die Mühe machen, ihm auf die Höhen edler Gefühle, in die Tiefen verstörter Seelen und auf verschlungenen Nebenwegen zu folgen, um sich an seiner Sprachkunst, seinem Witz, seinem Humor, seiner Satire, seiner Pathetik und selbst seiner Sentimentalität zu erfreuen. Wer den Versuch unternimmt, zehn lesende Leute, die ihren Jean Paul im Bücherschrank haben, nach ihrer Lektüreerfahrung mit ihm zu fragen, wird von neun von ihnen die Antwort erhalten, sie seien an ihm gescheitert aus Mangel an Zeit und Geduld. Die angebliche Renaissance hat sie gelehrt, ihn als einen der Großen zu achten, nicht aber, sich auf ihn einzulassen. Ein dazu erforderliches Lesen, das nicht nur auf den Verlauf der Handlung und auf eine bloße Abbildung von Wirklichkeit aus ist, haben sie nicht gelernt. Der Mangel, den sie beklagen, ist nicht der an Zeit, sondern der an Übung. Es ist das Fehlen eines Trainings, das jeder Kunstgenuß und auch schon jedes Spiel erfordert. Dem aber unterziehen sich, dem Zeitgeist gehorchend, nur wenige, und die unorganisierte Geheimgesellschaft der Jean-Paul-Leser bleibt wohl auch im einundzwanzigsten Jahrhundert nicht nur außerhalb des Kanons, sondern auch weiterhin unter sich.
Um so mehr ist es zu begrüßen, daß sich jetzt der Manesse-Verlag Jean Pauls annimmt, indem er in einem seiner eleganten kleinformatigen Bände, die sich nicht nur ihrer schönen Gestalt, sondern auch ihrer bewährten Inhalte wegen als Weihnachtsgeschenk so gut eignen, mit dem "Komet" einen Roman von ihm vorlegt, der sonst nur in Werkausgaben verfügbar ist. "Der Komet oder Nikolaus Marggraf" mit der Gattungsbezeichnung "Eine komische Geschichte", 1820 bis 1822 erschienen, war Jean Pauls letzte erzählende Dichtung, und sie blieb, wie schon sein erster Roman "Die unsichtbare Loge" und in der Mitte des Lebens die "Flegeljahre", ein Fragment. Das Buch beginnt, wie immer bei Jean Paul, mit einer lesenswerten Vorrede, die vom Entstehen des Werkes, von der Bedrückung des freien Wortes durch die Karlsbader Beschlüsse, vom Lauf der Kometen, einem Papierdrachen und von manchem anderen handelt, und es endet, ohne daß ein Ende der Handlung in Sicht ist, abrupt mit dem Wort "Entsetzen", das sich auf den blasphemischen Ausruf: "Vater Beelzebub, ich bin wieder bei dir; warum hattest du mich verlassen?" bezieht.
Die unvollendete Lebensgeschichte des Apothekersohnes Nikolaus Marggraf, der sich (vielleicht sogar berechtigterweise) für den illegitimen Sohn eines Markgrafen hält und auf der Suche nach seinem fürstlichen Vater durch die skurrile Welt der deutschen Zwergstaaten reist, ist die Geschichte einer Wirklichkeitsverkennung und als solche, worauf schon die Vorrede, indem sie es leugnet, hinweist, mit dem "Don Quijote" des Cervantes verwandt. Während den Ritter von der traurigen Gestalt die übermäßige Lektüre von Ritterromanen an der Wahrnehmung der banalen Wirklichkeit hindert, ist es bei Nikolaus Marggraf eine falsche Erziehung und ein Überschuß an Phantasie. Dem Edelmut des eingebildeten Ritters entspricht die Menschenbeglückungsidee des eingebildeten Fürsten, der seine Landeskinder von Armut befreien möchte und durch die Erfindung der künstlichen Diamantenherstellung dazu auch in der Lage wäre, fände er das von ihm zu regierende Land.
Im Schulfreund Worble gibt es auch einen Sancho Pansa, der die Narrheiten mitmacht, ohne an sie zu glauben. Als Dulcinea fungiert eine Prinzessin Amanda, die Marggraf nur aus der Ferne und in Form einer Porträtbüste anbetet. Und da die Leute, denen er auf seiner Reise begegnet, das Spiel aus Spaß oder auch aus Eigennutz mitspielen, wird anfangs daraus wirklich eine "komische Geschichte" - bis als Bedrohung aus dem Nebel die Gestalt des "Ledermenschen" auftaucht, der sich Kain nennt und für den Sohn des Teufels hält. Auf ihn und seine Vision einer Weltherrschaft des Antichrist bezieht sich das "Entsetzen", mit dem das Fragment endet. Der Phantasie des Lesers bleibt überlassen, ob mit dem zweiten Narren der Widerpart oder die Komplementärgestalt des sanftmütigen Marggraf auftritt. Jean Pauls Vorarbeiten sagen darüber nichts.
In diesem Alterswerk, dem der Gefühlsüberschwang der Jugendwerke (nicht aber deren Metaphernseligkeiten) fehlen, wird das bei Jean Paul übliche Spiel mit Fiktion und Realität (auf das auch das kundige Nachwort von Ralph-Rainer Wuthenow näher eingeht) besonders souverän betrieben, und das heißt auch besonders vertrackt. Wegen seiner vielen Seitenhiebe auf die Zensur, die Polizeischnüffelei und die Kuriositäten deutscher Zwergfürstentümer kann der Roman als Satire auf die Restaurationsepoche gelesen werden, mit gleichem Recht aber als Künstlerroman und Selbstparodie.
Der Apothekerssohn mit seinen lebensfernen Phantastereien, die nicht frei sind von Eitelkeiten, gleicht dem jungen, von Gefühlen bestimmten narzißtischen Literaten Richter, der sich den Künstlernamen Jean Paul zulegte, und seinen ihm ähnelnden fiktiven Gestalten, deren Träume er herrlich auszumalen verstand. Die unschuldige, aber auch verantwortungslose Fernliebe des Helden, die auch im Leben des Autors Entsprechungen hatte, wird im "Komet" durch die Pseudoliebe zum wächsernen Abbild der Schönen parodistisch auf die Spitze getrieben. Und wenn Nikolaus Marggraf seinen Hofstaat durch einen Wetterpropheten vervollständigt und dazu den Kandidaten Richter aus Hof im Voigtland auswählt ("Die Leser werden erstaunen, der Kandidat war niemand anders als ich selber, der ich hier sitze und schreibe"), so macht der alt gewordene Autor aus seinem zeitversetzten jungen Ich (diesem "dürren Jüngling mit offener Brust und fliegendem Haare", der, wie jeder Jean-Paul-Leser aus der "Geschichte meiner Vorrede zum Quintus Fixlein" weiß, auch bei seinen langen Fußmärschen, wie dem von Hof nach Jena, immer eine Schreibtafel zur Hand hat) - so macht also der selbstkritisch gewordene Autor sich selbst zum einzigen Gefolgsmann des närrischen Apothekers, der unerschütterlich an dessen eingebildete Fürstlichkeit glaubt.
Jean Paul: "Der Komet oder Nikolaus Marggraf". Eine komische Geschichte. Nachwort von Ralph-Rainer Wuthenow. Manesse Verlag, Zürich 2002. 704 S., geb., 24,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Gäbe es eine Statistik, die statt gekaufter nur gelesene Bücher erfassen würde, sinniert Günter de Bruyn, bekäme man schnell Gewissheit, dass Jean Paul zwar zu den geschätzten Autoren zählt, dass ihn aber wenige der Buchbesitzer tatsächlich wirklich zur Kenntnis genommen haben. Denn wer Jean Pauls Sprachkunst rühmt, so de Bruyn, der muss auch seinen Humor, seine Pathetik und seine Sentimentalität mögen. Kurz, ein Autor, auf den man sich einlassen muss. Begrüßenswert also das Wagnis des Manesse Verlages, einen Roman zu veröffentlichen, der sonst nur in Werkausgaben zugänglich ist und als letzte erzählende Dichtung Jean Pauls, wie de Bruyn erklärt, Fragment geblieben ist. Er erzählt die Lebensgeschichte des Apothekersohns Nikolaus Markgraf, der sich für den illegitimen Sohn eines Markgrafen hält und auf eine skurrile Reise durch die deutschen Zwergfürstentümer begibt. Einerseits lese sich "Der Komet" wie eine Satire auf die deutsche Kleinstaaterei und auf die deutsche Restaurationsepoche, sei aber andererseits auch Künstlerroman und Selbstparodie, erörtert de Bruyn, der diesem Alterswerk den Gefühlsüberschwang des Paulschen Jugendwerks abspricht und dafür ein besonders souveränes Spiel mit den Ebenen von Realität und Fiktion beobachtet hat.
© Perlentaucher Medien GmbH
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