Caroline Alexander stellt nach ihren Bestsellern über Ernest Shackletons Expedition mit der Endurance und über die Meuterei auf der Bounty erneut ihr großes Können unter Beweis. Eine kongeniale Einführung in Homers Ilias, eines der größten Bücher der Menschheit. Schon ihre Bücher über Shackletons Südpolexpedition mit der Endurance und über die Meuterei auf der Bounty behandelten wahrhaft epische Stoffe, doch nun wendet sich Caroline Alexander dem Epos schlechthin zu: der Ilias des Homer, einem der einflussreichsten Kunstwerke, die je geschaffen wurden. Mit einem stupenden Wissen, das auf jahrelangen Recherchen basiert, und ihrer schriftstellerischen Brillanz macht sie den vor bald 3000 Jahren entstandenen Text in einer Weise zugänglich, die ihresgleichen sucht. Nicht nur öffnet sie uns Lesern die Augen für die Fülle an faszinierenden Geschichten, Facetten und Details. Sie liefert auch eine meisterhafte, ja geradezu bewegende Deutung des Geschehens und der Protagonisten, allen voran des zornigen und zutiefst tragischen Helden Achilles und des trojanischen Prinzen Hektor, dessen ebenso mutiger wie chancenloser Zweikampf mit Achill einen der dramatischen Höhepunkte der Ilias darstellt. Für Alexander ist die Ilias in ihrem Kern eine Erzählung über den Krieg mit all seinen verheerenden Begleiterscheinungen und über die existenziellen Fragen des Menschen: über seine Beziehung zu den Göttern und zu seiner Gemeinschaft, zu Ehre, Liebe, Sterblichkeit und Tod. Aus dieser Perspektive entpuppt sich das Epos gerade nicht als Heldengeschichte, als die sie immer wieder gelesen wird, sondern vielmehr als eine ebenso beispiel- wie zeitlose Abrechnung mit der Sinnlosigkeit jeden Krieges. Souverän und mitreißend geschrieben, ist Der Krieg des Achill eine Hommage an einen der bedeutendsten Texte der Weltliteratur, einen Text, der sich mehr denn je als ein Schlüsselwerk menschlicher Erfahrung erweist.
Der unbarmherzigen Logik des Schlachtfelds widersteht kein Held: Caroline Alexander folgt Achilles vor die Mauern von Troja und zeichnet die zersetzende Wirkung des Krieges eindrucksvoll nach.
Nachdem sich der Staub der diversen Troja-Debatten gelegt hat, sollte man sich erneut mit der "Ilias" als Kunstwerk beschäftigen. Am besten anhand von Caroline Alexanders ebenso einseitiger wie brillanter Darstellung der "Ilias". Alexander, eine amerikanische Sachbuchautorin ("Die wahre Geschichte der Meuterei auf der Bounty", deutsch: 2004) und klassische Philologin, intereressiert eben nicht "Der Krieg des Achill", sondern "The War that Killed Achilles", wie das Buch im Original heißt.
Achill ist nicht das "Vieh" (Christa Wolf), sondern ein überempfindlicher Gentleman, der in einem von allen Beteiligten als sinnlos empfundenen Krieg seinen Tod findet. Niemand will den Krieg: Zeus hasst den Kriegsgott, Hektor verwünscht seinen Bruder Paris, Helena verflucht sich selbst, die griechische Armee liefe jubelnd davon, wenn Odysseus sie nicht aufhielte. Auch Agamemnon denkt in seiner Verzweiflung an Abfahrt. Und Achill selbst erläutert, dass ihm persönlich die Trojaner nichts getan hätten und er deshalb nach Hause fahre, um im väterlichen Königreich ein gutes Leben zu führen.
Trotzdem fährt er nicht ab, und alles geht schief. Warum? Genau davon handelt die "Ilias": vom Geflecht aus Charakter, Sozialstatus, Intellekt, Emotion und Sprache, in dem Individuen sich entscheiden und sich dabei in ihr Schicksal verstricken. Alexander zeichnet dieses Netz in neun Kapiteln straff nach und relativiert so zum Teil das vorgeschaltete erste Kapitel, in dem sie den historischen Rahmen philologisch aufspannt. Natürlich hat die "Ilias" enge kulturelle Bezüge zur mykenischen und vorderorientalischen Welt, aber für die Handlung der "Ilias" bedeutet das relativ wenig: Das Epos beobachtet in Großaufnahme eine präzise gezeichnete Personenkonstellation unter den zersetzenden Bedingungen des Krieges.
Ebenso relativiert wird, liest man die "Ilias" genau, der Einfluss der Götter. Natürlich greifen Götter auf beiden Seiten ein, steht hinter allem der Plan des Zeus und hat Achill als sterblicher Sohn einer Göttin von Geburt an sein Schicksal. Die "Ilias" erzählt aber von Achills Zorn, von Heftigkeit und Unbedingtheit eines einzigartigen Menschen, der sein Schicksal ganz aus Eigenem vollzieht. Alexander macht einsehbar, wie dies geschieht. Sie deutet dabei nur leicht Verbindungen zur Gegenwart an, und trotzdem ist klar, dass sie auch mit kritischer Verve gegen die aktuelle amerikanische Politik schreibt. Das trübt den Blick der Philologin keineswegs. Auch als Kenner ist man verblüfft, wie zahlreich die negativen Urteile über den Krieg in der "Ilias" tatsächlich sind.
Fast überall kann man sich Alexanders Urteil anschließen. Nur den wichtigen neunten Gesang, in dem Achill durch eine Gesandtschaft umgestimmt werden soll, versteht sie wohl falsch. Die Rede von Achills Erzieher Phoinix ist nicht "unbeholfen", sondern ein Meisterwerk raffinierter Erzählkunst - wie Joachim Latacz in den "Prolegomena" zu seinem Ilias-Kommentar (2000) schön gezeigt hat. Hier rächt sich angelsächsische Blindheit gegenüber fremdsprachiger Literatur. Und Aias' Appell an Achill als Kameraden, der diesen beinahe noch rechtzeitig umstimmt, wird von Alexander auch nicht ernst genug genommen: Was Kriege tragischerweise in Gang hält, ist die Loyalität gegenüber den nächsten Gefährten.
Und genau dieses Prinzip, das Aias ganz im Sinne Achills ausgesprochen hat, wird von Achill verletzt. Achill will ja nicht aus vernünftiger Einsicht nach Hause, sondern aus Trotz: Für seine verletzte Ehre sollten die eigenen Kameraden die Rechnung begleichen. Und dafür muss Achill nun seinerseits mit dem Verlust seines geliebten Gefährten Patroklos zahlen, den er den Griechen in höchster Not dann doch mit seiner Elitetruppe schickt. In der anschließenden Raserei der Rache tötet Achill zwar mit Hektor den Hauptverteidiger Trojas, aber er weiß, dass er selbst bald fallen wird. Die Logik des Krieges, in der sich Achill verfängt, hat mehr mit Achills Charakter zu tun, als Alexander gelten lassen will.
Dafür hat sie aus amerikanischer Sicht genauere Kenntnis vom Krieg, als sie in deutschen Büchern üblich ist. Sie kennt die Studie des Psychiaters Jonathan Shay "Achilles in Vietnam" - Ernst A. Schmidt hat deutsche Leser auf sie hingewiesen - über die psychischen Schäden des Vietnam-Krieges, durch die mehr amerikanische Soldaten umgekommen sind als im Kampf. Achills Verhalten entspricht ziemlich genau einer posttraumatischen Störung nach dem Berserkerzustand. Alexander stützt sich auf Shay, geht aber dann eigene Wege. Das vorletzte Kapitel besteht allein aus Wolfgang Schadewaldts Übersetzung des 22. Gesanges, denn der Zweikampf Achills mit Hektor wirkt für sich.
Im Schlusskapitel zeigt Alexander dann aber, warum wir die "Ilias" heute noch lesen müssen: Im Schlussgesang begegnen sich Achill und Priamos, der die Leiche seines Sohnes auslösen kommt, als einzelne Menschen, die aneinander Schönheit und Würde bewundern und gemeinsam über die Sterblichkeit weinen: Priamos über Hektor, Achill über seinen Vater Peleus, den er einsam im Alter zurücklassen wird. Der Krieg zerstört alles, was Wert hat. Und hier schließt sich der Kreis von einzelner Erzählung und kollektivem, historischem Geschick: Zu Beginn des Kriegsgeschehens, als ein Zweikampf alles leicht entscheiden könnte und selbst Zeus seinen Plan aussetzen will, treibt Heras tiefer Hass auf Troja das Unglück voran. Ein Hass, der so weit geht, Zeus zum Ersatz Heras liebste Städte Argos, Sparta und Mykene zur Zerstörung anzubieten.
Für wenige Verse blitzt in der "Ilias" das Wissen der Griechen auf, dass die Welt der mykenischen Sieger über Troja kaum mehr als eine Generation später untergehen sollte. Die Aktualität Homers ist immerwährend. Entschiedener als Caroline Alexander hat dies kaum jemand aufgezeigt.
THOMAS POISS
Caroline Alexander: "Der Krieg des Achill". Die Ilias und ihre Geschichte. Aus dem Amerikanischen von Ulrike Bischoff. Berlin Verlag, Berlin 2009. 319 S., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Sehr eingenommen ist Rezensent Thomas Poiss von Caroline Alexanders Buch über Homers "Ilias". Dabei sieht er nicht den "Krieg des Achill" im Zentrum, wie der deutsche Titel behauptet, sondern "The War that Killed Achilles", wie das Buch im Original heißt. Der Autorin gelingt es seines Erachtens glänzend zu zeigen, dass die "Ilias" vor allem ein Werk über die schlimmen Folgen eines Krieges ist, den im Grunde keiner will. So wird die "Ilias" für ihn lesbar als eine "präzise gezeichnete Personenkonstellation unter den zersetzenden Bedingungen des Krieges". Geradezu erstaunt ist er darüber, wie viele negative Einschätzungen über den Krieg Alexander in diesem Epos findet. Den Urteilen der Autorin kann sich Poiss fast immer anschließen, nur im Blick den neunten Gesang neigt er zu einer anderen Interpretation. Doch das ändert für ihn nichts an der großen Leistung von Alexander. Diese hat für ihn mit ihrem Werk klarer denn je die immerwährende Aktualität Homers aufgezeigt.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
