Ein Toter wird Vater, und ein Lebender möchte tiefgefroren werden. Greise Nobelpreisträger stiften ihren Samen ausgewählten Damen und hoffen so, die Menschheit postum zu veredeln. Geschichten, so befremdlich, wie sie nur die Wirklichkeit erfinden kann, literarische Miniaturen, die ein fremdes Land namens Gegenwart zeigen. Dieses kurzweilige Buch ist ein ungewöhnliches Album auf die Epochenwende: darin blätternd, begegnen wir den Idealen von gestern, den Illusionen von heute und einer Zukunft, die schon begonnen hat, unsere Vorstellungen vom Menschen zu zerstören. Ein Buch zur rechten Zeit, eine literarische Erkundung der Unzeit.
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Karl-Markus Gauß erzählt vom Mann, der ins Gefrierfach wollte · Von Harald Hartung
Pitcairn liegt irgendwo im Stillen Ozean, rund tausend Meilen von der nächsten bewohnten Insel entfernt, so abgelegen, dass selbst Fernsehempfang unmöglich ist. Dennoch hat dort jeder Haushalt einen Fernseher. Denn das Postschiff, das vierteljährlich erscheint, bringt jeweils eine Kiste mit Kassetten, auf denen die Nachrichten der vergangenen drei Monate gespeichert sind, und die Einwohner sehen sich diese Sendungen in chronologischer Folge an: Sie leben hinter der "Echtzeit". Sie sind "Meuterer der Beschleunigung", wie Karl-Markus Gauß bemerkt, der diese Gesichte erzählt - Meuterer auch deshalb, weil sie Nachkommen der Besatzung der legendären "Bounty" sind. Aber das muss man in dem so kleinen wie faszinierenden Buch des Salzburger Kritikers und Essayisten nachlesen.
Wer schreibt und wer liest, handelt ähnlich wie die Leute von Pitcairn. Er hat seine eigene "Echtzeit", ob er aus dem tiefen Brunnen der Vergangenheit schöpft oder aus der aktuellsten Pfütze. Karl-Markus Gauß hat es gereizt, das Genre der Vermischten Nachrichten zur Kunst zu erheben. Was wir morgens überfliegen und zumeist gleich wieder vergessen, hat ihn zu Erzählungen und Betrachtungen gereizt, die man getrost als moderne Kalendergeschichten bezeichnen kann.
Da ist der titelgebende "Mann, der ins Gefrierfach wollte", nämlich der Gelehrte, der sich 1967 als erster Mensch in die Tiefkühltruhe eines Forschungsinstituts legen ließ - ein säkularisierter Wiedergänger jenes Bergmanns von Falun, der uns aus Hebels Geschichte entgegentritt. Da ist "die begehbare Frau", nämlich jene Jenny, die ihren Alltag per Kamera im Zweiminutentakt ins Internet übertragen lässt. Solange sie für ihre voyeuristischen Verehrer im Bild ist, glaubt sie zu leben: "denn der Tod ist, wenn der Computer ausgeschaltet, die Kamera abgeräumt, das Licht ausgedreht ist". Jenny ist eine Figur aus einer Nach-Orwellschen Welt, in der das heimliche Auge längst öffentlich geworden ist.
Alle Geschichten, die Gauß erzählt, sind Exempel, sind Minima Moralia, in denen er die Idole und Idolatrien von Echtzeit, Virtualität und Todesverdrängung aufs Korn nimmt. Aus dem Vermischten wetterleuchtet die Apokalypse. Freilich eine, die nicht mit dem Knall, sondern dem Wimmern kommt - oder vielleicht ganz ohne Geräusch, nämlich virtuell. Die verbesserte Maschine Mensch, so befürchtet Gauß, "ist längst kein Bastelwerk der Mechanik mehr, vielmehr ein Übungsfall von Biochemie und Mikroelektronik". Und dieser Typus räumt sukzessive die letzten Refugien der Intimität. Der Angestellte einer Handelskette, die ihren Mitarbeitern das fröhliche Du verordnet, unterlag vor Gericht mit seinem Wunsch, das distanzierende Sie sich bewahren zu dürfen.
Solche Reduzierung der Nuance drückt sich auch in der Sprache aus. Gauß erwähnt, dass nicht nur Arten verschwinden, sondern - unter dem Druck von Modernisierung und Globalisierung - auch ganze Sprachen, etwa die Sprache des kenianischen Volks der El-Molo. Aber auch die Teilnehmer der herrschenden Sprachen finden auf ihren Textprogrammen statt des Wortes "delete" nur noch ein Bild vor, das Piktogramm für Papierkorb.
Hier, auf der Höhe seines Pessimismus, im Kapitel "Vom Verschwinden der Worte", machte Karl-Markus Gauß die entscheidende Volte. Sie befreit ihn vom Verdacht einer allzu selbstsicheren Kulturkritik. Pasolini habe das Verschwinden der Glühwürmchen als Schwelle einer neuen Epoche bezeichnet. Doch er irrte, die Glühwürmchen kamen unerwartet zurück, "und sie leuchten wirbelnd noch immer durch den Abend".
"Albumblätter" ist der Untertitel des zauberhaften Büchleins. Man darf an Blätter aus unserer gegenwärtigen Epochenwende denken, aber auch an die musikalischen Charakterstücke aus dem neunzehnten Jahrhundert. In Salzburg ist die Tradition der österreichischen Sprachkritik immer noch lebendig.
Karl-Markus Gauß: "Der Mann, der ins Gefrierfach wollte". Albumblätter. Paul Zsolnay Verlag, Wien 1999. 120 S., geb., 27,- DM.
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
In "gestelzten Formulierungen", die aber von "hinreißendem Charme" sind, so der Rezensent Urs Willmann, weise Gauß in seinen Albumblättern auf ein paar objektive Absurditäten hin. Glaubhaft berichtet der Rezensent von Gauß` Erstaunen angesichts der Tatsache, dass in den Todestrakten amerikanischer Gefängnisse nicht geraucht werden darf: "Es gibt eine Pflicht, gesund zu sterben." Und so finde Gauß in der Welt der Wissenschaft, der Medien und der Geschichte noch manche andere Skurrilität, in der die Realität alle Fiktion überbiete.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Es gibt Autoren, zu diesen zählt Karl-Markus Gauß, die müssen ihre Arbeit in nicht allzu großen Abständen veröffentlichen, da im andern Fall ihre Leser, und zu diesen zähle ich, an Entzug zu leiden begännen. An Geistesentzug. (...) Prosa, wie sie seit Musils kleinen Prosastücken nicht geschrieben wurde: schön und intelligent." Michael Scharang, Süddeutsche Zeitung, 04./05.12.1999 "Gauß' Sammlung von Seltsamkeiten ist eine literarische Wunderkammer." Marion Löhndorf, Neue Zürcher Zeitung, 10.02.2000 "In seinen Miniaturen markiert Gauß den Universalgelehrten, der auf der Suche nach Spuren menschlicher Komödien und Tragödien in vielen Wissensgebieten fündig wird, in der Biotechnologie, Geschichte, Sprachforschung, Publizistik. Das Recherchierte knotet er zu gestelzten Formulierungen zusammen, die von hinreißendem Charme sind." Urs Willmann, Die Zeit, 24.02.2000 "Ein so kleines wie faszinierendes Buch. (...) Erzählungen und Betrachtunen, die man getrost als moderne Kalendergeschichten bezeichnen kann. (...) 'Albumblätter' ist der Untertitel des zauberhaften Büchleins. Man darf an Blätter aus unserer gegenwärtigen Epochenwende denken, aber auch an die musikalischen Charakterstücke aus dem neunzehnten Jahrhundert. In Salzburg ist die Tradition der österreichischen Sprachkritik immer noch lebendig." Harald Hartung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.01.2000







