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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.11.2001

Alberich! Mir graut's vor allen außer dir
Diese Kunst ist sichtbar: Nora Eckert macht viel Theater mit dem "Ring des Nibelungen" / Von Gerhard R. Koch

Vor hundertfünfundzwanzig Jahren, im Sommer 1876, wurden die Bayreuther Festspiele mit der Uraufführung von Richard Wagners "Ring des Nibelungen" eröffnet; 1951 folgte die Weiterführung des Unternehmens "Grüner Hügel": Neu-Bayreuth brachte die "Entrümpelung" der Wagner-Szene. Doch die Kritiker des seit fünfzig Jahren amtierenden Hausherrn Wolfgang Wagner konstatieren schon lange Erstarrung: Die "Werkstatt" Bayreuth sei zu keinerlei Innovationen mehr fähig.

Doch der greise Clan-Chef hat seinen Widersachern nun einen Brocken hingeworfen, den sie nicht verschmähen können, an dem aber alle zu würgen haben. Denn 2006 wird der Filmregisseur Lars von Trier nicht nur als Opernregisseur debütieren, sondern dies auch gleich in Bayreuth - und mit nichts Geringerem als dem "Ring". Zuvor war bekanntgeworden, daß Peter Mussbach sich für seinen "Ring" in Los Angeles der Hollywood-Illusionsmaschinerie von George Lucas versichert hat. Und in Leipzig wie nun in Berlin hofft Intendant Udo Zimmermann nach wie vor inbrünstig auf die Zustimmung von Steven Spielberg für eine "Ring"-Regie. Keine Frage: Die Nibelungen-Tetralogie ist "in", die Gier nach cineastischen Illuminationen für die Opern-Bühne ein Symptom ungebrochener Aktualität. Dies freilich ist nicht nur ästhetisch begründet. Eher scheint die Weltlage permanent Analogien zur Untergangs-Parabel nachzureichen. "Götterdämmerung" kann auf einmal vielerlei bedeuten: Zerstörung von Natur wie Gesellschaft, menschlichem Leben überhaupt, "Apocalypse now".

Die Literatur zu Wagner, seinen musikdramatischen "Gesamtkunstwerk"-Konzepten, kompositorischen Strukturen, seinen Ideen und Obsessionen, nicht zuletzt Antisemitismus, ist immens, schwillt immer mehr ins Uferlose. Auch an Interpretationen der Nibelungen-Tetralogie mangelt es keineswegs. Doch in der Oper gibt es noch eine andere Form der Wahrheitssuche nicht wissenschaftlich-literarischer Art: die Verwirklichung des Artefakts, die Inszenierung. Die Bühnen-Realität vermittelt indes nicht nur Sinn und Form des Werks, das es "an sich" nicht gibt, sondern auch die Zeitgeist-Vorstellungen, die sich dessen bemächtigen. Gerade der "Ring", größtes musikalisch-theatralisches Produkt des gesamten neunzehnten Jahrhunderts, hat unerhörte Assoziationen ausgelöst und an sich gebunden. Dementsprechend ist eine Geschichte der "Ring"-Inszenierungen nichts Geringeres als: Sozialgeschichte.

Nora Eckert, die ein instruktives Buch "Das Bühnenbild im 20. Jahrhundert" geschrieben hat, ist dieser gewaltigen Aufgabe nicht ausgewichen, hat es unternommen, die Geschichte der Inszenierungen von 1876 bis 2001 zu entfalten und jeweils zeittypische Leitlinien herauszupräparieren. An rund achtzig Versionen belegt sie die Gültigkeit des Wotan-Mottos aus dem "Rheingold": "Wandel und Wechsel liebt, wer lebt; das Spiel drum kann ich nicht sparen!" Wer immer auf Wagners Hauptwerk sich einläßt, gerät in dessen Strudel, verliert in unterschiedlicher Weise den Boden unter den Füßen. Und wollte man Max Webers These von der "fortschreitenden Rationalität" der bürgerlichen Gesellschaft aufs Musikdrama übertragen, so hieße das "Entmythologisierung in Permanenz". Ja, in schier dialektischer Manier läßt die Rezeptionsgeschichte Pendelschläge erkennen, eine scheinbar gültige Werkgestalt wie ­deutung als Chimäre. Interpretation kann also kaum etwas anderes sein als wechselnde Ideologiekritik, zumal am deutschnationalen Herrschafts-Ikonographie-Fundus.

Menetekel der Wagner-Bühne bleibt Wagners Satz: "Ach, es graut mir vor allem Kostüm- und Schminkewesen . . . nachdem ich das unsichtbare Orchester geschaffen habe, möchte ich auch das unsichtbare Theater erfinden." Zumindest ist er immer als Kampfansage gegen das Fellwams-Stierhornhelm-Germanen-Brimborium und den pseudomalerischen Pseudo-Realismus verstanden worden. Wieland Wagners "Entrümpelung" freilich hatte einen Vorläufer, den Schweizer Theater-Theoretiker Adolphe Appia, für den die Musik obersten Rang hatte, aber weniger im Sinne hehrster Tonkunst, mehr als Strukturierung von Zeit, deren Ablauf dann den Raum prägt. 1924 hat Appia in Basel "Die Walküre" inszeniert, in streng geometrisch antinaturalistischen, "kubistischen" Bühnenbildern - unterwegs zur Abstraktion. Der "Ring" im leeren Raum, nur vom Licht strukturiert, mit gleichwohl mythisch überdimensionalen Figuren auf der Bühne war Wieland Wagners Radikalisierungsverdienst. Die Tetralogie als malerisch mehr oder minder autonomes Zeichensystem präsentierten Ruth Berghaus und Axel Manthey in Frankfurt: Psychodrama in farbigen Symbolräumen. Auf diesem Wege weiter, allerdings hin zum eher gefällig Bildchenhaften, gingen Alfred Kirchner und Rosalie in Bayreuth. Eine andere Dimension des Licht-Langsamkeits-Niemandslandes erlebt man bei Robert Wilsons Zürcher Version. Der antigegenständliche Wagner bleibt nach wie vor Einspruch gegen wuseliges Detail-Gewerkel.

Je höher die Nazis den Heroenkult ins Wagnersche Werk hineintrieben, zugleich aus ihm ableiten zu können wähnten, um so nachdrücklicher wurde die Demontage der Leitfiguren vollzogen, Wotan als korrupter Gründer-Clan-Boß enttarnt, der strahlende Held Siegfried als unselige deutsche Ödipus-Variante gedeutet: Täter und instrumentalisiertes Opfer in einem. Und schon 1898 hatte George Bernard Shaw den "Ring" als Parabel auf den Kapitalismus interpretiert, in Wagner den Zeitgenossen von Marx und Weggefährten von Bakunin entdeckt, folgerichtig Siegfried kurzerhand "Siegfried-Bakunin" tituliert. Die schärfste Formulierung freilich fand Wieland Wagner schon 1965: "Walhall ist Wall Street". In diesem Sinne sind nicht wenige "Ring"-Inszenierungen der späten sechziger und siebziger Jahre sarkastisch antikapitalistisch geschärft. Zufall freilich war es nicht, daß so viele prominente Ansätze Fragment blieben: Stein, Grüber, Hollmann, Heyme, Ronconi, Mussbach, Ruth Berghaus in Ost-Berlin. Die Totalität der Werk-Konzeption und die Zweifel der Achtundsechziger wollten sich nicht zueinanderfügen. Daß der gloriose Stuttgarter "Ring" gleich vier verschiedenen Regie-Teams wie Ensembles anvertraut wurde, war da nur konsequent.

Nora Eckerts Darstellung ist kompetent, erkenntnisreich und liefert viele Materialien zur verschlungenen Werk- wie Gesellschaftsgeschichte, wie sie sich in den divergierenden Regie-Konzepten niederschlägt. Die Autorin, Jahrgang 1954, ist zwangsläufig auf Literatur und Zeitungskritiken angewiesen, die als Belege mitunter ein klein wenig wahllos wirken. Die Fokussierung auf den "Ring" war in Anbetracht der Komplexität des Sujets sicher richtig und notwendig. Ausblicke auf Inszenierungen anderer Wagner-Werke ("Parsifal"), aber auch generelle Theaterentwicklungen, etwa im Tanz, hätten manchen Überlegungen und Schilderungen noch mehr Relief gegeben.

Zwei Einwände sind ebenfalls eher grundsätzlicher Natur: Die fast ausschließliche Konzentration auf die Fragen von Regie und vor allem Bühnenbild vernachlässigt die musikalische Dimension. Denn die großen "Ring"-Inszenierungen waren auch durch besondere Dirigenten und deren Neudeutung der Partituren mitbestimmt - ob Böhm bei Wieland Wagner, Boulez bei Chéreau, Gielen bei Berghaus, Cambreling bei Wernicke, Zagrosek in Stuttgart: Musiker, die sich dem Vierteiler aus der Erfahrung mit der Moderne näherten, Böhm immerhin mit "Wozzeck" und "Lulu". Faszinierende Wechselwirkungen ergaben sich da: Was man anders hörte, sah man anders - und umgekehrt. Zeigte Konwitschny Siegfried in der Stuttgarter "Götterdämmerung" als Komödianten, so klang auch die Musik plötzlich gelenkiger, spöttischer.

Aber selbst im Hinblick auf die Theater-Situation vermißt man ein entscheidendes Element: die singschauspielerische Präsenz. Mit Sänger-Kult hat es nicht zu tun, erinnert man sich, wie sehr manche Inszenierungen aus den individuellen Erscheinungen lebten. Chéreaus Regie basierte auf der bewegenden Brünnhilde von Gwyneth Jones, dem gebrochenen Machtmenschen Wotan von Donald McIntyre, dem bulligen Gauleiter-Hagen Karl Ridderbuschs; Kupfers Bayreuther Version auf dem neurasthenisch über die Bühne rasenden Wotan von John Tomlinson. Und so wie der nicht eben herkuleische Manfred Jung der treffende Siegfried für Chéreau war, so prägte der massige William Cochran die so unterschiedlichen Deutungen von Berghaus und Wernicke.

Eine Frage aber stellt Nora Eckert, vielleicht mit gutem Grund, nicht: Ist der "Ring", wie manch andere Klassiker auch, nicht interpretatorisch allmählich ausgereizt? Ein Zurück zur angeblichen, gar historischen Werktreue gibt es nicht. Eine Schonfrist, auch zur Senkung des stets übermächtigen Erwartungsdrucks, könnte der Rezeptions-Erfrischung dienen.

Nora Eckert: "Der Ring des Nibelungen und seine Inszenierungen von 1867 bis 2001". Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2001. 406 S., Abb., geb., 98,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Einen neuen Ansatz zur Wagner-Forschung findet Gerhard R. Koch in Nora Eckerts Studie zu Inszenierungen des "Ring der Nibelungen" zwischen 1867 bis 2001 vor. Diese Arbeit konzentriere sich einmal weniger auf "Ideen und Obsessionen des Wagner-Werkes", sondern frage nach dem Zeitgeist, der sich in den verschiedenen Inszenierungen des "größten musikalisch-theatralischen Produkts des gesamten 19. Jahrhunderts" ausdrücke. Mit diesem Ansatz bietet die Studie für Koch eine Sozialgeschichte der Wagner-Rezeption. Bei Eckerts kompetenter und mit vielen neuen Materialien versehener Geschichte der "Ring"-Aufführungen vermisst Koch jedoch Ausblicke auf Inszenierungen anderer Wagner-Werke. Zudem vernachlässige die Konzentration auf Fragen von Regie und Bühnenbild die musikalische und schauspielerische Leistung der Akteure.

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