Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2021.
Verbunden durch das gemeinsame Schicksal von Bedrohung, Flucht und Heimatlosigkeit hat Erich Goldschmidt einen ganz anderen Lebensweg wählen müssen als sein jüngerer Bruder. Während Georges-Arthur als international gefeierter Autor zwischen den Sprachen und mit den Worten lebt, hatte Erich sich für ein Leben an der Waffe entschieden. Er schloss sich der Résistance an, kämpfte mit bei der Befreiung von Paris und des Elsass und war schließlich Major in der französischen Kolonialarmee in Algerien. Dort beteiligte er sich sogar an dem Offiziersputsch gegen Charles de Gaulle, der Algerien in die Unabhängigkeit entließ, und blieb dennoch bis zu seiner Pensionierung Offizier. Danach arbeitete er noch viele Jahre als unauffälliger Mitarbeiter der Crédit Agricole.
Über Jahrzehnte zurückgehalten, war ein Geburtstagsbrief der Anlass für Georges-Arthur Goldschmidt, die verschütteten Erinnerungen an das Leben des Bruders ans Licht zu holen.
Verbunden durch das gemeinsame Schicksal von Bedrohung, Flucht und Heimatlosigkeit hat Erich Goldschmidt einen ganz anderen Lebensweg wählen müssen als sein jüngerer Bruder. Während Georges-Arthur als international gefeierter Autor zwischen den Sprachen und mit den Worten lebt, hatte Erich sich für ein Leben an der Waffe entschieden. Er schloss sich der Résistance an, kämpfte mit bei der Befreiung von Paris und des Elsass und war schließlich Major in der französischen Kolonialarmee in Algerien. Dort beteiligte er sich sogar an dem Offiziersputsch gegen Charles de Gaulle, der Algerien in die Unabhängigkeit entließ, und blieb dennoch bis zu seiner Pensionierung Offizier. Danach arbeitete er noch viele Jahre als unauffälliger Mitarbeiter der Crédit Agricole.
Über Jahrzehnte zurückgehalten, war ein Geburtstagsbrief der Anlass für Georges-Arthur Goldschmidt, die verschütteten Erinnerungen an das Leben des Bruders ans Licht zu holen.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Christian Mayer begreift Georges-Arthur Goldschmidts Buch über den glücklosen älteren Bruder als Versuch des Autors, den entfremdeten Bruder zu verstehen. Mayer erinnert der Text an eine Erzählung von Uwe Timm aus dem Jahr 2003. Hier wie dort sucht der entfremdete Bruder Erfüllung beim Militär, hier wie dort ist das dem anderen fremd, stellt Mayer fest. Von einer "gestohlenen Kindheit" in Krieg und Exil erzählt Goldschmidt laut Mayer mittels vorsichtiger Einfühlung. Eine berührende literarische Biografie, findet er.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Der Arm war zum Schlag bereit: Georges-Arthur Goldschmidts Roman über seinen älteren Bruder
Das Foto auf dem Buchumschlag zeigt die beiden Brüder Georges-Arthur (damals noch Jürgen-Arthur) und Erich Goldschmidt 1938 bei Florenz. Erich, 1924 geboren, schaut ernst, der Jüngere, Jahrgang 1928, blickt lachend in die Kamera. Der Ältere ist schon als Knabe ein Ordnungsmann, er muss sich schützen. "Wie er in sich stand, war er sicher, die Gegenstände, die Landschaft, das Rasenrondell mit den metallenen Gartenstühlen, mit den runden Löchern im Sitz, die Buchen im Garten, das Gitter, alles, was er sah, war verlässlich." Beim Spielen ist seine Angst, "der Kleine könne alles durcheinanderbringen". Dass Stühle umgestellt werden, leidet er nicht. Und tatsächlich stiftete gerade der Jüngere allenthalben Unordnung: "Er verdarb alles, und wenn Erich, außer sich vor Verzweiflung, auf ihn einschlug, heulte der kleine Bruder derartig, dass die Mutter herbeieilte."
Der "versperrte Weg", vom Titel des Buches angekündigt, ist der des älteren Bruders. Das bloße Hinzutreten des Neugeborenen, der böse Absichten noch gar nicht hegen kann, bringt das Chaos hervor, an dem der ältere leidet. "Bisher war alles glatt, gleichmäßig, so wie erwartet. Vor ihm breitete sich der ganze Weg zum Gehen oder Laufen aus; jetzt, wenn ein Erwachsener ihn nicht an der Hand hielt, war ihm der Weg versperrt." Wir sehen einfache und klare Konfliktlinien. Nichts in diesem Bruderkampf, so rätselhaft er sich in seinen Folgen zeigt, ist irgendwie in seinen Konturen verwischt oder impressionistisch-vieldeutig. Fast möchte man sagen: Die übermäßige Klarheit, in der hier alles von Beginn an erscheint, ist das eigentliche Rätsel.
So kommt es, dass schon der erste Widerstandsversuch des Älteren gegen den Jüngeren gleich die volle archaische Wucht in einem unerhörten Angriff entfaltet. Dieser kündigt sich während des Mittagessens der Eltern durch eine eigentümliche Stille im Haus an. "Plötzlich, von einer Ahnung getrieben, springt der Vater auf und rennt die Treppe hinauf." Erich hatte sich aus seinem Gitterbett befreit und stand mit einer Stricknadel "und schon mit gehobenem Arm" an der Wiege des Babys: "Er wollte ihm die Augen ausstechen." Das Leben in diesem Buch kennt überhaupt nur harte Markierungen, schon in der Kindheit, und so kann man sagen, dass dem späteren Major Erich Goldschmidt das Militärische eingeleuchtet haben muss.
Die Familie ist jüdischer Herkunft, aber schon seit Generationen protestantisch. 1934 verliert der Vater, ein Oberlandesgerichtsrat, seine Stellung. Nun ist auch die Mutter für den älteren Bruder kein Trost mehr; von einer Unruhe ist sie ergriffen, in der wirkliche Nähe immer unwahrscheinlicher wird. Kam er zu ihr, wenn sie gerade dem jüngeren zu essen gab, dann "stieß sie ihn fast von sich". Er reagiert psychosomatisch, indem er sich nachts im Bett wie in einem Krampf herumwirft. Die jüdische Herkunft macht sich durch Zurückweisungen durch die anderen bemerkbar, Erich wird weniger auf Fahrten mitgenommen. Und doch empfindet er militärisch und deutsch, wie man es eben damals verstand: "Die verschiedenen Flaggen der Kriegsmarine hatte er alle mit Buntstift abgezeichnet, und das Hakenkreuz störte ihn nicht, obgleich er doch die alte Reichsflagge schöner fand." Auch Deutschland stößt ihn von sich.
1938, noch vor dem Novemberpogrom, schicken die Eltern die beiden Brüder vorsorglich nach Italien, wo sie zu diesem Zeitpunkt noch relativ sicher sein konnten. Das aufnehmende Ehepaar Binswanger hatte einen gewissen Ruf, "die Dame war sehr modern, trug Hosen, was ihn schockierte, sie war die Tochter eines der ersten Flieger Deutschlands", nämlich Gustav Lilienthals. Ihr Mann, Paul Binswanger, hatte seine Frankfurter Universitätsstellung wegen der Rassengesetze verloren. Sein Buch über Flaubert war ausgerechnet von Walter Benjamin 1934 in der Frankfurter Zeitung verrissen worden. Aber Anfang 1939 wandern die Binswangers abermals aus, diesmal nach Neuseeland, und das idyllische Intermezzo geht zu Ende. Die beiden Jungen werden nach Frankreich geschickt, wo eine Verwandte der Eltern lebt. Aber nicht bei dieser kommen sie unter, sondern in einem Internat, dem Collège Florimontane.
Sie sind in Sicherheit, sogar noch nach Frankreichs Kriegsniederlage, denn Besatzer sind zunächst nicht die Deutschen, sondern die Italiener. Erst 1943 kommt mit der Wehrmacht die "dunkle Nacht" mit Razzien. Zu den Helfern der Verfolgten gehören Pfarrer. Erich schließt sich der Résistance an. Die Brüder verlieren sich aus den Augen, sie sehen sich einmal 1947 und dann erst wieder Ende der siebziger Jahre in Deutschland. Der Mann, von dessen Knabendasein wir nur zwei charakteristische Züge kennengelernt haben: seine Liebe zur Ordnung und seine Aggressivität - es heißt, dass früh in ihm eine "ungeheure Gewalt gärte" -, dieser Mann fand seine Heimat in der Armee, genauer in der Fremdenlegion, und zwar durch einen unglücklichen Zufall: Er unterschreibt die Papiere der Legion, um endlich einen Ort der Zugehörigkeit zu haben, kehrt dann noch einmal in seine Wohnung zurück, um Sachen abzuholen - und findet die Einbürgerungsurkunde vor, die dem Problem ein Ende gesetzt hätte, wenn die Unterschrift nicht ihrerseits schon rechtsgültig geleistet worden wäre. "Gerade in dem Augenblick, als für ihn einmal nichts mehr im Wege stehen sollte, war er selber zum Hindernis auf dem eigenen Weg geworden."
An den härtesten Kämpfen um Dien Bien Phu ist Erich 1954 beteiligt, sie enden mit der Niederlage Frankreichs. Dann kommt er nach Algerien, wird Major und "beteiligte sich 1961 sonderbarerweise an dem Aufstand gegen de Gaulle", den rechtsgerichtete Offiziere angezettelt hatten. Der Ordnungsmann, der er als Knabe war, ist er geblieben. Der jüngere Bruder verweigert ihm die Empathie nicht völlig: "Er hatte aber auch rasch verstanden, dass der Islam nichts anderes als Gehorsam und Fanatismus war, dass er zu jeder zivilisatorischen Entwicklung unfähig war, eine versteinerte Kultur ohne Geschichte - Algerien würde bis ans Ende der Zeiten, trotz allen Reichtums, ein Land der Willkür bleiben." Allerdings konnte von einer weiteren Karriere in der Armee nun keine Rede mehr sein. Die beiden Gewissheiten seiner Knabenzeit - "Alles musste so bleiben, wie es war", "Der Arm war zum Schlag bereit" - hatten ihm den Weg gewiesen. Nach dem Ende seiner Offizierslaufbahn beruhigte sich sein Leben. Erich wurde Hauptkassierer der Landwirtschaftsbank Crédit Agricole und fuhr, wie der jüngere Bruder im letzten Satz schreibt, ohne es noch weiter auszudeuten, "jahrelang durch das ganze Département Var, von Dorf zu Dorf". Wege, endlich, nichts als Wege!
LORENZ JÄGER.
Georges-Arthur Goldschmidt: "Der versperrte Weg". Roman des Bruders.
Wallstein Verlag, Göttingen 2021. 111 S., geb., 20,- Euro.
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»Der Text hat mich momentan in Bann geschlagen und sehr berührt. Ich MUSSTE das Buch in einem Zug lesen! Georges-Arthur Goldschmidt hat für seinen Roman des Bruders (der Brüder) eine wunderbar diskrete und darum umso eindringlichere Form gefunden.« (Johannes Fischer, Buchhandlung Mirhoff & Fischer) »Wie bei Beauvoir zeigt auch dieses schmerzlich schone Buch die Pragung junger Menschen durch Familie, Religion, Gesellschaft und Politik ihrer Zeit, der sie nicht entkommen konnen, an der viele zerbrechen, ihr Leben lang leiden oder auf ihre Art die Stirn zu bieten versuchen.« (Susanne Bader und Pascal Mathéus, Wetzsteinbrief November 2021, Buchhandlung zum Wetzstein) »Ein extrem starkes Buch und die nur 100 Seiten haben es in sich. Gut gemacht Herr von Wallmoden, dass sie Herrn Goldschmidt auf diese Leerstelle in seinen Bücher angesprochen haben. Wir hätten sonst diesen Leseschatz nie entdecken können.« (Samy Wiltschek, Ulmer Bücherstube Jastram) »Dieser Roman (...) versteht esdurch die Distanz zum Bruder eine enorme Dichte zu kreieren. Eine Lektüre, die den Schatten der Vergangenheit aufwühlt und mit klugen und schönen Sätzen zum Leben erweckt. Es ist somit ein wahres Dokument, das uns Geschichte lehrt und durch die literarische Kunstfertigkeit zum Nachfühlen einlädt.« (Hauke Harder aka Leseschatz, Buchhandlung Almut Schmidt, Kiel) »Es gelingt dem Autor etwas ganz Tolles: er fasst den nahezu lebenslangen Konflikt in einen ganz sachlichen Ton, dadurch bekommt es so eine Emotionalität und Eindringlichkeit, sehr bewegend!« (Barbara Ter-Nedden, Parkbuchhandlung Bonn)