Eine Familientragödie, ein Serienmörder, Identität, Erinnerung und die Suche nach der Wahrheit - diese Elemente verwebt der amerikanische Bestsellerautor Dan Chaon zu einem faszinierenden Thriller. Im Mittelpunkt steht der Psychologe Dustin, den die Frage quält, wer seine Eltern ermordet hat. Als er auf den genialen Ermittler Aqil trifft, der angeblich seit Jahrzehnten einem Serienmörder auf der Spur ist, geraten beide in einen Mahlstrom aus Verbrechen und Abgründen, der in die Tiefen der Vergangenheit führt ... zu der Frage nach dem Bösen im Menschen.
© BÜCHERmagazin, Kirsten Reimers
Zerfallsprozesse: Dan Chaon schreddert die Grenze zwischen Einbildung und Realität
Wenn der Autor eines Thrillers immer wieder Sätze mittendrin abbricht, muss er gute Gründe dafür haben. Denn die Verdachtsmomente gegen ihn wiegen schwer: übersteigerte Fixierung auf Formales, Hang zu Kinkerlitzchen, stilistisches Unvermögen. Der Amerikaner Dan Chaon erweist sich in seinem dritten Roman "Der Wille zum Bösen" als hingebungsvoller Satzhäcksler. Allerdings merken wir bald, dass er genau weiß, was er tut, dass er seinen Text gleichsam im Würgegriff hält und ihn so lange auswringt, bis nur das Nötigste übrig bleibt. Und wenn das dann Fragmente und typographische Extravaganzen sind, hat sich das Entschlackungsprogramm zweifellos gelohnt.
Die Form des Romans entspricht nämlich seinem Inhalt. Er handelt von Figuren, die psychisch zerfallen. Am härtesten trifft es den Protagonisten. Dustin Tillman arbeitet als Therapeut und hat eine sterbenskranke Frau, zwei von ihm entfremdete Söhne sowie einen gerade aus dem Gefängnis entlassenen Adoptivbruder namens Rusty. Letzterer saß, das scheint inzwischen geklärt, jahrzehntelang unschuldig in Haft für die Morde an Dustins Eltern, dessen Onkel und Tante. Dustin wiederum gehörte, obwohl noch ein pubertierender Junge, zu den für die Verurteilung wichtigsten Zeugen. Dummerweise war er schon immer ein Phantast, der die Produkte seiner Imagination mit der Wirklichkeit verwechselte. Und damit wären wir beim Dreh- und Angelpunkt des Buchs: An der durchlässigen Grenze zwischen Einbildung und Realität reibt sich der gesamte Plot auf.
Deswegen kommen wir während der Lektüre zur sicheren Erkenntnis, dass uns hier keine sichere Erkenntnis erwartet. Dustin entpuppt sich als unzuverlässiger, von einer dramatischen Ich-Auflösung bedrohter Charakter, dem kein Jota über den Weg zu trauen ist. Der Offenbarungseid erfolgt bereits nach knapp fünfzig Seiten: "Wir erzählen uns selbst immer eine Geschichte über uns selbst", sagt er. Und legt sofort nach: "Ereignisse in unserem Leben haben eine Bedeutung, weil wir beschließen, sie ihnen zuzuschreiben." Erinnert sich Dustin also tatsächlich daran, wie Rusty zum Mörder wurde, oder hat er den Entschluss gefasst, sich daran zu erinnern? Ist Sinn bei ihm eine Kippfigur, die jederzeit in Unsinn umzuschlagen droht? Wir denken an Max Frisch und akzeptieren einstweilen dessen Bemerkung: "Wahrheit lässt sich nicht zeigen, nur erfinden."
Die kurzen, temporeichen Kapitel werden aus wechselnden Perspektiven erzählt, mal in der dritten, dann wieder in der ersten Person, sie spielen zu unterschiedlichen Zeiten an unterschiedlichen Orten. Wiederholt geht es um Satanismus oder bizarre Rituale, und dann scheinen die neu eröffneten Themenfelder doch nirgendwo hinzuführen. Chaon ist versiert darin, falsche Fährten zu legen und die Story nach Belieben ausfransen zu lassen. Dies auch beim zweiten wichtigen Handlungsstrang, der sich einem von Dustins Patienten widmet. Der ehemalige Polizist ist davon überzeugt, dass etliche ertrunkene Studenten einem Serienkiller zum Opfer gefallen sind. Für Dustin werden die gesammelten Indizien rasch zu Belegen, aus unsortierten Fakten macht er eine Geschichte. Den bruchlosen Zusammenhang, den uns der Roman verweigert, stellt sein Protagonist für sich auch hier wieder her.
Wer Krimis liest, um sich am Ende in die Geborgenheit sinnstiftender Ordnung zu kuscheln, wird Chaons Thriller als Zumutung empfinden. Es ist bedauerlich, dass der Heyne Verlag sich nicht getraut hat, die ursprüngliche Darstellungsweise beizubehalten. Wo im Original Sätze ohne jede Interpunktion einfach versanden, stehen in der deutschen Ausgabe drei Pünktchen. Ein Unterschied ums Ganze: Jähe Leerstellen zeugen von Unsagbarkeit und Strukturverlust, Auslassungszeichen dagegen von einer Lücke, die sich genauso gut füllen ließe. Einen solchen Trost hat "Der Wille zum Bösen" indes nicht zu bieten.
KAI SPANKE
Dan Chaon: "Der Wille zum Bösen". Thriller.
Aus dem Amerikanischen von Kristian Lutze.
Heyne Verlag, München 2018. 624 S., br., 14,99 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Für Rezensentin Katharina Granzin hat sich Dan Chaons Thriller "Der Wille zum Bösen" als "das deprimierendste Buch des Jahres" entpuppt. Laut Kritikerin handelt es sich um eine Ansammlung der Monologe einsamer Männer, die entweder gerade ihre Mutter oder ihre Frau verloren haben, und darum grollen. Gut geschrieben und spannend sei der "superfinstere" Roman dennoch, so Granzin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Die Thriller von US-Autor Dan Chaon sind Reisen in die tiefe Nacht verwundeter Seelen.« Marcus Müntefering, Spiegel Online