Der Band versammelt Essays, Reden, Kritiken, auch unveröffentlichte, von Ulla Hahn: scharf formulierte, unterhaltsame und informative Überlegungen zum Schreiben und Lesen von Gedichten und zur Rolle des Schriftstellers in der Gesellschaft. Ob Ulla Hahn dem eigenen Schreiben nachforscht oder so unterschiedlichen Autoren wie Else Lasker-Schüler, Gertrud Kolmar, Bertolt Brecht, Friedrich Hölderlin und Friedrich Schiller, Hilde Domin, Sylvia Plath oder Christa Reinig nachspürt, Gedichte von Frauen aus drei Jahrtausenden und den Sprachen der Welt zusammenführt, ihren Kanon vorstellt oder einfach fragt:"Gedichte lesen - warum eigentlich?"- jeder Satz ist ein leidenschaftliches Erkunden der Rolle des Dichters in der Gegenwart und der seines siamesischen Zwillings, des Lesers.
Ganz nah dran und unverhohlen: Die Dichterin Ulla Hahn legt in ihren Essays Rechenschaft ab über Vorlieben und Abneigungen
Über nichts gibt Ulla Hahn so oft und so gern Auskunft wie über ihr eigenes Schreiben und Lesen. Es ist geradezu ihr idealer Lebenszweck, jedenfalls ihr Lebenselixier von Kindesbeinen an. Das konnte man schon ihrem Roman "Das verborgene Wort" entnehmen, der von ihrer lebenslangen Liebe zum gehörten, gelesenen und geschriebenen Wort handelte. "Mit Schreiben und Lesen fängt eigentlich das Leben an" - dieses Motto, gefunden auf einer Wachstafel aus dem vorchristlichen Mesopotamien, hatte sie ihrem autobiographischen Roman vorangestellt. In diesem Sinne ist auch das Buch "Dichter in der Welt", das eine Auswahl ihrer literaturkritischen Essays, Interpretationen, Vor- und Nachworte und Vorträge enthält, für sie zugleich ihre Lebensbeschreibung. Autobiographie und Poetik fallen bei ihr zusammen.
Gewiß: "Poetik" ist vielleicht ein wenig hoch gegriffen. Hier geht es eher um unverhohlene Bekenntnisse und um die Vermittlung von Kenntnissen. Oder, noch direkter: Es geht um Werbung. Ulla Hahn wirbt um den Leser; sie wirbt für die Poesie, sie wirbt für die Autoren, die ihr im Verlaufe ihrer eigenen Lesegeschichte lieb und wert geworden sind. Literaturkritik erscheint hier als Bericht vom Glück ihres Lesens, das sie mit ihren Lesern teilen möchte: "Was auch immer ich schreibe, ist verlorene Liebesmüh - ohne Leser." Was sie, Emil Staiger zitierend, bekennt, das soll auch er erkennen: "Nur was mich ergreift, kann ich begreifen." Das dürfte diesem Leser kaum schwerfallen; handelt es sich doch um eine der bequemsten Formen des Umgangs mit Poesie. Und darüber hinaus soll dieser vorgestellte Leser allen politischen Vereinnahmungsaktionen der Poesie sein entschiedenes Veto entgegensetzen mit der schlichten Behauptung, es sei "lächerlich, politische Meinungen zu versifizieren, wie ja jedes In-Dienst-Nehmen von Kunst ihre Vernichtung bedeutet".
Ulla Hahn hat, wie man sieht, die Elementarlektion der Autonomieästhetik parat und rekapituliert deren Prinzipien gelehrig: "Gedichte haben kein Thema", liest man da einigermaßen überrascht, sie sind nur sie selbst: Sprache, Selbstausdruck, Musik und Form. Diese ästhetischen Qualitäten selbst seien es, die der Dichtung Humanität sicherten und ihren Lesern Vergnügen, Beglückung, Trost und Lebensmut bereiten könnten. Aber Gesang und Botschaft schließen einander für Ulla Hahn nicht aus; sie sind die zwei Seiten ein und derselben Sache Poesie, an der seit je der Sänger stets ebenso beteiligt sei wie der Redner. Und so kann Ulla Hahn mit der gleichen Entschiedenheit, mit der sie politische oder gar ideologische Positionen für unverträglich mit der Poesie erklärt, postulieren, der Schriftsteller müsse "wie jeder andere Demokrat Dinge, die im argen liegen, beim Namen nennen". Gleich dreimal und dazu auch noch gesperrt gedruckt begegnet diese Formulierung in den Essays, so als hätte irgend jemand gegen ein normales demokratisches Verhalten auch des Schriftstellers etwas einzuwenden. Zu fragen wäre doch nur: Warum sollte sich der Schriftsteller so verhalten, und warum muß das gerade von ihm mit solchem Nachdruck eingefordert werden? Das hätte man gern etwas eingehender begründet gesehen.
Doch Begründungen sind nicht unbedingt Ulla Hahns Herzenssache. Sie hält es eher mit Konfessionen. Die bündigen Thesen sind ihr wichtiger als die umständlichen Beweisgänge, die Textzitate haben mehr Gewicht als die Textanalysen. Nicht zufällig laufen mehrere ihrer Beiträge auf die Wiedergabe eines vollständig zitierten Gedichts hinaus: Die sogenannten Primärtexte besitzen glücklicherweise eindeutig Priorität vor allen sekundären Kommentaren. Allenfalls die vielleicht allzu eifrigen Mitteilungen über biographische Begebenheiten und die geschickt arrangierten Selbstäußerungen der porträtierten Autoren (mit Vorliebe aus Briefen und Tagebüchern) könnten es an Gewicht mit den Gedichtzitaten aufnehmen.
Mit Vorzug, aber ohne pointiert feministische Affektation stellt Ulla Hahn Autorinnen vor, darunter die Droste, Else Lasker-Schüler, Gertrud Kolmar, Nelly Sachs, Ricarda Huch, Gertrud von Le Fort, Marie Luise Kaschnitz, Hilde Domin und Christa Reinig, aber auch ausländische Dichterinnen wie Emily Dickinson, Inger Christensen, Sylvia Plath und Irina Ratuschinskaja. Ulla Hahn unterschlägt dabei die "Weiblichkeit" ihrer Kolleginnen keineswegs, aber sie vermeidet den "exklusiven Blick" auf diese Weiblichkeit in der richtigen Einschätzung, daß eine solche Exklusivität vielfach nur als eine andere Form der vordergründigen Geringschätzung genutzt wird. Einmal, im Fall der Christa Reinig, versucht sie sogar, der Autorin den "Deckel des Feminismus" auszureden, zu dem Christa Reinig sich bekannt hatte. Viel wichtiger, schöner und auch poetisch ertragreicher seien vielmehr ihre Fähigkeit und ihr Mut, zu lieben - eine Gabe, die Ulla Hahn auch anderen Autorinnen als höchstes menschliches und künstlerisches Qualitätsmerkmal zuschreibt.
Und ein weiteres vermeintliches Kennzeichen weiblichen Schreibens, das Ulla Hahn offensichtlich auch für sich selbst in Anspruch nimmt, kommt hinzu: "Wenn Frauen schreiben, ist das auch eine Suche nach Identität, einem Platz in der Welt, nicht nach einem neuen, diesmal weiblichen Ich-Ideal in Utopia", heißt es in der hier wieder abgedruckten Vorrede zu ihrer Anthologie "Stechäpfel". Für dichtende Frauen gilt daher, daß sie in der Auseinandersetzung mit sich selbst und mit Hilfe der Poesie "dichter in der Welt", gleichsam näher dran sind an der Realität. So gibt Ulla Hahn dem Titel ihres Buches, der zunächst allerlei "Dichter in der Welt" zu präsentieren verspricht, wortspielerisch eine zweite Bedeutung. Daß der Titel "Ulla Hahn: Dichterin der Welt" dem Leser drittens die weltliterarische Bedeutung der Verfasserin vor Augen führen soll, will ich ihr nicht unbedingt unterstellen, obwohl sie, wie wir aus ihren Gedichten wissen, Sprachwitz und Selbstironie genug besitzt, die es erlauben würden, ihr einen solchen Clou zuzutrauen.
Ulla Hahn: "Dichter in der Welt". Mein Schreiben und Lesen. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2006. 315 S., geb., 18,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Albert von Schirnding macht zunächst ausgiebig seinem Unmut Luft angesichts dieses Bandes, der Reden, Aufsätze und Rezensionen von Ulla Hahn versammelt, um anschließend dann doch zumindest die Essays über Lyrikerinnen begeistert zu loben. Grundsätzlich findet er solche Sammlungen von vermischten Texten eher unbefriedigend, weil er dahinter mehr Verlagskalkül als einen inneren Zusammenhalt vermutet. Zudem findet es Schirnding ziemlich eitel, wie sich Hahn mit ihren Texten zu verschiedenen Dichtern und deren Einfluss auf ihr eigenes Schreiben mit den berühmten Autoren auf dieselbe Stufe zu stellen versucht, doch dabei nur "Banalitäten" über ihre Textproduktion herauskommen. Genüsslich weist er der Lyrikerin auch zahlreiche philologische Versehen nach, wenn es um die Werke der bekannten Kollegen geht. Und dennoch soll man sich seiner Meinung nach dadurch nicht abschrecken lassen, denn die Aufsätze über Lyrikerinnen wie Nelly Sachs, Hilde Domin oder Sylvia Plath machen die Lektüre gerade in ihrem persönlichen Zugang zu den Texten der Kolleginnen wieder lohnenswert, wie Schirnding betont.
© Perlentaucher Medien GmbH
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