'Irgendwie bricht manchmal die ganze Welt zusammen. Einfach so. Ich finde mich also nicht wieder und ganz egal, wo ich suche, ich bleibe verschwunden.' Die Suche, von der Lisa Krusche vor mehr als 15 Jahren in einem Tagebucheintrag spricht, hält bis heute an. In einer patriarchalen Welt voller vermeintlicher Schönheitsideale, kapitalistischer Heilversprechen und misogyner Rollenbilder folgt die Autorin den Spuren der Riesinnen und Riesen, die sie aus Erzählungen und Büchern kennt, aber auch in der zeitgenössischen Kunst vorfindet. Krusches Essay mäandert zwischen einer Bestandsaufnahme weiblichen Seins in unserer Gesellschaft, kulturwissenschaftlichen und literarischen Exkursen sowie der Annäherung an die mythologischen Figuren des Riesen und der Riesin. Dabei ist die Spurensuche der Autorin immer auch eine nach sich selbst - nach einem Ort, an dem sie nicht 'zu viel' ist, sondern sein kann, wie sie ist, mit all ihren Zweifeln, Verletzungen und vermeintlichen Unzulänglichkeiten. Die zweite Ebene des Buches bilden Fotografien der Künstlerin Jenny Schäfer zum Themenkomplex Steine und Felsen, den wir aus unzähligen Sagen, Märchen und Mythen - häufig verknüpft mit mythischen Riesen - kennen. Mit ihrer Kamera erforscht Schäfer Gesteinsoberflächen und -materialitäten und entdeckt darin fließende Strukturen, irritierende Farbverläufe und fantastische Landschaften, die Härte und Zartheit widerspiegeln, Offenheit und Verschlossenheit, Geborgenheit und Wildheit. Der Essay von Lisa Krusche und Jenny Schäfers Fotografien stellen tradierte Betrachtungsweisen und Perspektiven ebenso entschieden wie überzeugend in Frage. 'Die Anrufung der Riesin' ist ein radikal persönliches Buch und gleichzeitig von generationen- und geschlechterübergreifender Relevanz - lesenswert nicht nur für Feminist*innen.
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Als "mäandernd" würde Rezensent Alexander Diehl den Essay von Lisa Krusche, mit Fotos von Jenny Schäfer nicht unbedingt bezeichnen - seine Struktur erinnert ihn eher an einen "Steinbruch". Den roten Faden bildet die persönliche Erzählung Krusches, lesen wir, die, auch in Tagebuch-Auszügen über Weiblichkeit, Erwachsenwerden und Empanzipation nachdenkt. Das Thema der "Riesen" funktioniert als thematischer Aufhänger: Als Kind habe sich die Autorin gar nicht so für die mythologischen Geschöpfe, zum Beispiel den "Scheinriesen" aus Jim Knopf, interessiert. Erst als sie beim Erwachsenwerden selber "schrumpfte", auch durch die Zuschreibungen, die die Gesellschaft Frauen aufdrängt, wurden Riesen interessant. Ergänzt werden die persönlichen Passagen von Zitaten unterschiedlicher Quellen, so Diehl: Zitate aus bell hook, von der Anthropologin Anna Lowenhaupt Tsing und viele mehr. Auch die Stein-Fotos von Jenny Schäfer gefallen dem Kritiker, der diesen Band wärmstens empfiehlt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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