"Genau genommen ist es so, daß jedes Werk einmal die Chance hat, gedruckt zu werden. Der Schriftsteller muß nur die Geduld aufbringen, zwei Jahre, fünf Jahre, zehn Jahre auf den günstigen Moment zu warten, da die Zensur einmal vor Übermüdung für Sekunden die Augen schließt." (Karl-Heinz Jakobs)Zu jedem in der DDR erschienenen Buch existieren mehrere Gutachten, die den Zensor über den Inhalt, die gesellschaftliche Bedeutung und die ideologischen Gefahren eines Werkes informieren sollten. Sie waren bis 1989 im Druckgenehmigungsverfahren die Grundlage jederZensurentscheidung, ob ein Buch überhaupt erscheinen konnte, und wenn ja in welcher Form, ob es also noch verändert oder gekürzt werden musste.Im September 2019 befasste sich die Konferenz »Die Argusaugen der Zensur. Eine Geheimgeschichte der DDR-Literatur« mit der Interpretation solcher Gutachten, einer auch 30 Jahre nach der Wende noch unerforschten Textsorte, die ohne Kenntnis der institutionellen Hintergründe, üblichen Sprachregelungen und taktischen Absichten kaum zu verstehen ist. Dieser Tagungsband versammelt die Beiträge der teilnehmenden Zensurforscher verschiedener Disziplinen, Historiker, Literaturwissenschaftler und Buchwissenschaftler sowie von Lektoren der berühmten DDR-Verlage.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Mark Lehmstedt nimmt den von Siegfried Lokatis und Martin Hochrein herausgegebenen Band zum Anlass für einen kleinen Essay zum Thema Buchzensur in der DDR. Da der auf eine Tagung in Leipzig im Jahr 2019 zurückgehende Band größtenteils einfach Fallgeschichten der Zensur versammelt, hat Lehmstedt nämlich nicht viel zu rezensieren. Über Gutachten, ihre Beweggründe und Urheber und die Organisation der Zensur im Ministerium für Kultur und im ZK der SED erfährt Lehmstedt allerdings doch das ein oder andere aus den Beiträgen. Die Lektüre lässt beim Rezensenten das Bild entstehen vom Buch als Entwurf, an dem das System sich so lange abarbeitete, bis es passte.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Alias Zensur: Ein Sammelband mit Analysen zur Gutachtenpraxis im ostdeutschen Verlagswesen
Zu den besonderen Hinterlassenschaften des "Leselandes DDR" gehören Unmassen von Gutachten aller Art, die notwendig waren, um die für die Veröffentlichung erforderliche "Druckgenehmigung" zu erhalten. Nimmt man an, dass zu jedem Buch mindestens zwei, manchmal aber auch fünf oder gar zehn Gutachten erstellt worden sind, dann könnte die Gesamtzahl aller in vierzig Jahren geschriebenen Gutachten im Bereich von reichlich einer Million liegen. Wie viele von ihnen überliefert sind, ist unbekannt, Schätzungen gehen jedoch von einer sechsstelligen Größenordnung aus. Nur Bruchteile sind bislang wissenschaftlich ausgewertet worden, ja es fehlt immer noch an methodischen Überlegungen, was man mit dem gewaltigen Papierberg sinnvollerweise anfangen kann, wenn man nicht noch eine "Fallgeschichte" an die nächste reihen will, wie es zum größten Teil auch der von Siegfried Lokatis und Martin Hochrein herausgegebene Sammelband mit 45 Beiträgen einer Leipziger Tagung des Jahres 2019 auf 850 Druckseiten tut.
Diese Gutachten waren, wie Lokatis schreibt, "taktisch kontaminierte Ge brauchstexte", die eine Fülle von Funktionen im Prozess der Vorbereitung einer Buchveröffentlichung übernahmen, an erster Stelle aber immer die Frage zu beantworten hatten, ob ein Text in der jeweils vorliegenden Gestalt veröffentlicht werden könne. Die Entscheidung traf nicht der Verlag, sondern das Amt für Literatur und Verlagswesen oder von 1963 an sein Nachfolger, die Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel, beide im Ministerium für Kultur angesiedelt. Allerdings war auch das Kulturministerium keineswegs autonom, sondern unterstand de facto dem Politbüro des Zentralkomitees der SED. Es gab Gutachten ganz unterschiedlicher Art. Stammten sie vom Verlag oder waren in dessen Auftrag geschrieben, empfahlen sie erwartungsgemäß die Drucklegung, machten aber auch auf mögliche Probleme aufmerksam und dienten der Absicherung gegenüber dem Ministerium.
Verlagsarbeit unter Beobachtung
Handelte es sich um vom Ministerium in Auftrag gegebene externe Gutachten, dienten sie einer weiteren, vom Verlag unabhängigen Kontrolle des Textes sowie der Kontrolle der Verlagsarbeit; sie konnten äußerst gefährlich sein, da ihre Verfasser nicht unbedingt Interesse an der Veröffentlichung des begutachteten Textes hatten, wohl aber an ihrer eigenen Profilierung. Drittens gab es Gutachten, die von Mitarbeitern des Ministeriums selbst erstellt wurden. Sie prüften den Text, die Verlags- und die Außengutachten sowie die Tätigkeit des Verlags und dienten wiederum der Absicherung gegenüber anderen Instanzen, vor allem gegenüber dem Politbüro. Dieses war die letztlich entscheidende Machtzentrale, die Erich Loest schon 1984 als den "vierten Zensor" entlarvt hat. All diese komplizierten Kontroll- und Absicherungsmaßnahmen nutzten im Extremfall allerdings nichts, wenn sich beispielsweise der bulgarische Botschafter per Telefon über Werner Heiduczeks Roman "Tod am Meer" beschwerte, und ganz aberwitzig wurde es, wenn Walter Ulbricht Alfred Wellms "Pause für Wanzka" genehmigte, um Erich und Margot Honecker einen Denkzettel zu verpassen.
Die Kriterien, nach denen die Beurteilung von Büchern erfolgte, wurden nie "von oben" vorgegeben und als solche formuliert, nicht zuletzt weil sie einem permanenten Wandel unterlagen. Weil die Gutachter die Kriterien selbst nicht kannten, schufen sie sie überhaupt erst und definierten auf diese Weise den Bereich des Druckbaren. So bieten die Gutachten heute die wichtigste serielle Quelle für ihre Rekonstruktion. Da aber die DDR eine Gesellschaft mit Erlaubnisvorbehalt war (es ist alles verboten, was nicht ausdrücklich erlaubt ist), gewann jeder Text, der veröffentlicht wurde, also eine staatliche Druckgenehmigung erhalten hatte, gewissermaßen amtlichen Charakter, erlaubte also den Lesern festzustellen, worüber man (endlich) doch sprechen durfte. Denn die Gutachten definierten nicht nur die Grenzen von außen, sondern waren zugleich ein im Laufe der Jahre immer erfolgreicher eingesetztes Kampfmittel zur Ausweitung dieser Grenzen von innen.
Immer wieder belegen die Beiträge des Buches über die "Argusaugen der Zensur", wie Gutachten umfunktioniert und für die Durchsetzung "problematischer" Werke benutzt wurden. In diesem Prozess spielten Literaturkritiker und Literaturwissenschaftler eine bedeutende Rolle, sodass man fragen kann, inwieweit Gutachten auch als Ausdrucksformen nichtöffentlicher Debatten zu lesen sind, die, da sie Entscheidungsträger als Adressaten hatten, von viel größerer Wirkung sein konnten als veröffentlichte Kritiken. Bedauerlicherweise gibt es bislang kaum systematische Arbeiten zur Tätigkeit einzelner Gutachter. Weil die DDR ein kleines Land war, kamen ohnehin nicht allzu viele für diese höchst anspruchsvolle Arbeit infrage, und wer sich einmal bewährt hatte, konnte nicht nur erheblichen Einfluss ausüben, sondern auch seinen Lebensunterhalt damit verdienen wie etwa der sonst gänzlich unbekannte Udo Birckholz, der in einem einzigen Jahr nicht weniger als 53 Gutachten verfertigte und dafür gut achttausend Mark bekam, was dem durchschnittlichen Jahreseinkommen in der DDR entsprach. Dabei vertraten die Gutachter immer wieder auch handfeste eigene Interessen wie Alfred Otto Schwede, der die Übersetzung eines Buches nur deswegen ablehnte, weil er selbst ein Buch zum gleichen Gegenstand schreiben wollte.
Die uralten Prinzipien der Zensur - nichts gegen den Staat (vulgo die SED), die Religion (den Marxismus-Leninismus) und die guten Sitten (die sozialistische Moral) Gerichtetes zuzulassen - bildeten auch in der DDR die Grundregeln. In den dem Buch als Faksimile beigefügten "Richtlinien für die Begutachtung" vom 13. Mai 1960, die den Prozess der Begutachtung detailliert beschreiben, findet sich unter Punkt 2 die Kernaufgabe definiert: "Die Begutachtung als Form der Kontrolle zur Verhinderung des Erscheinens von Publikationen, die nicht mit den Prinzipien und Gesetzen unseres Staates im Einklang stehen."
Natürlich gab es Bücher, die prinzipiell nicht veröffentlicht wurden, darunter manchmal auch solche, die noch einige Jahre zuvor in Millionen Exemplaren verbreitet worden waren (etwa von Stalin, später von Mao). Allerdings irrte sich Jurek Becker, als er 1990 in seinen Frankfurter Poetikvorlesungen behauptete, das Schlimme an der Zensur der DDR sei nicht gewesen, dass jedes Jahr einige Bücher verboten wurden, sondern dass eine wesentlich größere Anzahl von ihnen gar nicht erst geschrieben worden sei. Tatsächlich ging es weder um verbotene noch um ungeschriebene Bücher, sondern darum, Bücher auf den Markt zu bringen - Bücher, die bestimmten Kriterien entsprachen. Die zu vielen Tausenden überlieferten Gutachten halten oft bis ins Detail hinein fest, welche Eingriffe in die Texte vorgenommen werden sollten, um diese nicht etwa zu verbieten, sondern vielmehr publikationsfähig zu machen. Damit erweisen sich die Gutachten als Teil eines Systems, in dem idealerweise der Text im Mittelpunkt stehen und der Autor nur noch die Funktion eines Mitarbeiters im System der "Produktion von Literatur" haben sollte. Er lieferte gewissermaßen einen Entwurf, an dem so lange weitergearbeitet wurde, bis der Text den komplexen Erwartungen des Auftraggebers entsprach.
Handlangerin der Propaganda
Stärker als in jeder anderen Phase der deutschen Buchgeschichte war in der DDR die Zensur nur die Kehrseite, ja die Handlangerin der Propaganda. Ausgehend von der (naiven) Überzeugung, dass Bücher Wirkungen hätten, weil Lektüre identifikatorische Prozesse auslöse, wurde dem gedruckten Buch ein außerordentlich hoher Rang bei der Herausbildung des "neuen, sozialistischen Menschen" zugewiesen. In diesem Geiste kam den Lektoraten der DDR-Verlage die entscheidende Funktion zu, die, oftmals über Jahre hinweg, gemeinsam mit den Autoren Bücher planten, entwickelten, korrigierten, umschrieben, mit Kollegen und Gutachtern diskutierten, bis sie sie für die Einreichung zur Druckgenehmigung reif hielten. Was in den Gutachten moniert wurde, die zur Erlangung der Druckgenehmigung, also nach Abschluss der gemeinsamen Arbeit am Manuskript geschrieben wurden, war nur der ungetilgte Rest an Problemen, die dem bereits durch viele Mühlen gedrehten Text noch immer nicht ausgetrieben worden waren.
Auch wenn sie nur die Spitze des Eisberges bilden, signalisieren die massenhaft überlieferten Gutachten, dass viele in der DDR im Druck erschienene Texte nur eingeschränkt als Autorentexte gelten können, waren sie doch oftmals Resultate eines gewissermaßen kollektiven Schreibprozesses von Autoren und "zuständigen Autoren", wie Volker Braun sie spöttisch genannt hat. Wer nach der Wirkung des Zensursystems der DDR fragt, muss konstatieren, dass es nie zuvor gelungen ist, die Buchproduktion eines ganzen Landes so umfangreich zu kontaminieren - freilich nicht komplett, denn Autoren, Lektoren und Gutachter entwickelten im Laufe der Jahre immer raffiniertere Methoden, die Zensur zu unterlaufen oder sie gar im eigenen Interesse einzusetzen.
Das sicherste Verfahren, sich vor derartigen Eingriffen zu schützen, hatten schon in den Fünfzigerjahren Remigranten wie Bertolt Brecht und Hans Mayer erfunden: Sie publizierten zeitgleich in der Bundesrepublik, womit alle Eingriffe in DDR-Drucken sofort öffentlich kenntlich gewesen wären. Auf die Spitze trieb dies Wolfgang Hilbig, der drei Jahrzehnte später ausdrücklich ein negatives Gutachten bestellte, weil er schon einen (illegalen) Vertrag mit dem Verlag S. Fischer in Frankfurt am Main geschlossen hatte. MARK LEHMSTEDT
"Die Argusaugen der Zensur". Begutachtungspraxis im Leseland DDR.
Hrsg. von Siegfried Lokatis und Martin Hochrein. Verlag Ernst Hauswedell, Stuttgart 2021. 851 S., Abb., geb., 78,- Euro.
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