Das Kontinuum der Verantwortung
Als ich den Buchtitel „Die Einstein-Vendetta“ las, erinnerte ich mich sofort an den Dokumentarfilm „Einsteins Nichten“ von Friedemann Fromm, den ich 2018 im Fernsehen sah. Schon damals hat mich die Geschichte der Ermordung von Familienmitgliedern Albert Einsteins
in Italien sehr berührt. Nun erscheint über 80 Jahre nach Kriegsende und 81 Jahre nach dem Mord ein…mehrDas Kontinuum der Verantwortung
Als ich den Buchtitel „Die Einstein-Vendetta“ las, erinnerte ich mich sofort an den Dokumentarfilm „Einsteins Nichten“ von Friedemann Fromm, den ich 2018 im Fernsehen sah. Schon damals hat mich die Geschichte der Ermordung von Familienmitgliedern Albert Einsteins in Italien sehr berührt. Nun erscheint über 80 Jahre nach Kriegsende und 81 Jahre nach dem Mord ein Sachbuch des bekannten englischen Autors Thomas Harding, der versucht, die „wahre Geschichte des Mordes“ (siehe Untertitel) zu recherchieren und zu erzählen.
Harding ist nicht der erste, der das versucht, begonnen hatte War Crime Officer Wexler mit der Recherche, nach ihm waren Deutsche, Amerikaner, Italiener auf juristischer Ebene mit dem Fall betraut, aber auch Journalisten versuchten die Geheimnisse zu lüften.
Was war geschehen? ... (gekürzt) .... da die Deutschen des Juden Robert Einstein nicht habhaft werden konnten, erschossen sie seine Ehefrau und ihre beide Töchter.
Wer war der Auftraggeber? Gab es einen Auftrag? Sollte Robert Einstein erschossen werden? Wer waren die Vollstrecker? Auch 81 Jahre nach dem Mord sind diese konkreten Fragen nicht geklärt. Und doch kann man sagen, die Auftraggeber waren die Verfasser der Nürnberger Gesetze und die Erfinder der Endlösung, der Auftrag war eindeutig Teil des Plans der Auslöschung der europäischen Juden. Nicht nur in Deutschland kannte man die Sippenhaft, wie sie zum Beispiel bei den Attentätern des 20. Juli 1944 angewendet wurde. Auch im besetzten Italien herrschte dieser Geist. Ob und wer am Ende die Familie verraten hatte, wer der Mordschütze war, das konnte auch Harding nicht belegen. Aber ihm gelingt es, eine Familiengeschichte der Einsteins zu erzählen, die eine Einblick gibt in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts und die viele Familienmitglieder und andere Personen anrührend und ehrlich charakterisiert.
Besonders der erste Teil des Buches „Verbrechen“ hat mich sehr gefesselt, als Leser sieht man das Unheil kommen, man weiß natürlich schon vor Beginn des Lesens, was geschehen wird. Aber ist es Thomas Harding gelungen, trotzdem eine hohe Spannung zu erzeugen, die Anspannung in der Familie zu vermitteln und die historischen Ereignisse außerhalb von Il Focardo einzuordnen.
Was Harding nach dem feigen Mord an Nina und den Töchtern im zweiten Teil „Nachspiel“ betrachtet, ist vor allem die Reaktion Robert Einsteins, dem es schier das Herz gebrochen hat. Nur mit Mühe können ihn Freunde vom sofortigen Selbstmord abhalten, verhindern können sie ihn später nicht, zu schwer wiegt für ihn die eigene Schuld. Aber er hat es trotz tiefer Depressionen geschafft, für die beiden Nichten Lorenza und Paola eine Lebensgrundlage zu schaffen. Sie werden es ihm nie vergessen, bis ins hohe Altern sprechen sie voller Liebe von ihm.
Der dritte Teil des Buches „Gerechtigkeit“ beschäftigt sich mit den umfangreichen, sich über viele Jahrzehnte hinziehenden Recherchen, die jedoch eines nicht finden, den wahren Mörder. Ob es tatsächlich eine Vendetta war, die den Cousin von Albert Einstein anstelle seines berühmten Verwandten vernichten sollte, steht nach wie vor als Frage im Raum.
Dass die Ehefrau und die Töchter von Robert Einstein aufgrund ihres jüdischen Ehemanns bzw. Vaters den antisemitischen Eiferern zum Opfer fielen, sehe ich hingegen als Tatsache an. Zumindest die ehrenvollen Gräber in Badiuzza für alle vier, die dort verein ruhen, und das Denkmal lassen an eine Gerechtigkeit glauben, die nicht „Auge um Auge“ errungen ist.
Thomas Harding hat dieses Buch mit einigen Details ausgestattet, die ich gern erwähnen möchte: es gibt einen Stammbaum der Familie Einstein/Mazzetti, man findet einige Karten, die extra für das Buch angefertigt wurden, im Text und am Ende sind verschiedene Fotos abgebildet, die einen Eindruck geben von den Menschen, über die Harding berichtet. Ich lege jedem Leser den Epilog ans Herz, der noch einmal eine hervorragende Zusammenfassung des Gelesenen gibt und auch das persönliche Interesse Hardings an der Familie Einstein und am Holocaust beleuchtet.
Auch der Anhang ist sehr ausführlich und unterstützt den wissenschaftlichen Stil, mit dem das Buch verfasst ist. Trotz der Wissenschaftlichkeit liest sich dieses Buch sehr gut! Ein umfangreicher Index macht es einem leicht, schnell noch einmal zu einer gesuchten Person, einem Ort oder Fakt zu wechseln. Bibliografie und Quellenangaben weisen Interessierten den Weg und zeugen von der umfangreichen Recherchearbeit, die Harding für dieses Buch bewältigt hat. Der eingangs von mir erwähnte Film befindet sich auch darunter.
Fazit: Dieses Buch erzählt nicht nur vom tragischen Schicksal der Familie Robert Einsteins, eines Cousins von Albert Einstein, man erfährt auch sehr viel über die Geschichte Italiens. Insbesondere die Zeit des Zweiten Weltkriegs, die wechselnden Besatzungen, die Befreiung und der Wiederaufbau des verwüsteten Landes werden sehr informativ beschrieben. Lesenswert und aufschlussreich. Gute vier Sterne.