Produktdetails
- Verlag: Suhrkamp
- ISBN-13: 9783518013717
- Artikelnr.: 25702310
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Paul Ludwig Landsbergs Schrift lehrt die Kunst des Philosophierens am letzten Probierstein des Denkens.
Von Lorenz Jäger
Wann hat man das Gefühl, schon nach den ersten Sätzen einem wirklichen Philosophen begegnet zu sein? Wenn die zur Verhandlung stehende Frage konzentriert und bei der Sache bleibend entwickelt wird, wenn der Stil dicht und lauter ist, wenn die Assoziationen, vielfältigen lebensweltlichen Beobachtungen und selbst die wissenschaftlichen Befunde zurückgenommen sind in Ernst und Strenge der Darlegung, natürlich nicht verstanden als autoritäre, willkürliche Setzung, sondern als Disziplin des Gedankens selbst. Man kann dann glauben, eine ganz reine Luft zu atmen. Paul Ludwig Landsberg war ein Philosoph. Und jeder, der zur seiner Abhandlung über die Erfahrung des Todes greift, wird allein aus ihr den Begriff des Philosophen ableiten können. Der Tod ist ja nicht irgendein Thema unter anderen, sondern sozusagen der letzte Probierstein des Denkens.
Dem Wort "Erfahrung", das schon der Titel nennt, kommt hier eine besondere Bedeutung zu. Es mag überraschen, dass gerade ein christlicher Personalist wie Landsberg mit einem Zitat von Voltaire in die Fragestellung einführt - mit der Nebenbemerkung, Voltaire sei "oft tiefer, als man glauben möchte". Der Aufklärer nämlich hatte gesagt, nur das Menschengeschlecht verfüge über das Wissen der Sterblichkeit, und es wisse darüber "nur aus Erfahrung" (elle ne le sait que par l'expérience). Hier gabeln sich gleich die Wege der Auslegung: Die empiristische, die dem achtzehnten Jahrhundert nahe genug lag, würde in die Richtung einer Anerkenntnis bloß der Tatsache des Sterbens gehen. "Und doch will es uns scheinen", fügt Landsberg an, "als ob dies ,par l'expérience' objektiv mehr enthielte, als sich Voltaire dabei bewusst gewesen ist. Ebendieser dunklere, pathetische Inhalt führt uns in die Richtung einer neuen Untersuchung" - nämlich die einer neu verstandenen Notwendigkeit des Todes.
Landsberg war ein Sohn der Phänomenologie, die der Bereich der Erfahrung über die begrenzten Vorstellungen, die sich der Empirismus gemacht hatte, erweitern wollte. Und nun setzt die Abhandlung abermals an - in einer Diskussion der Philosophie Max Schelers, Landsbergs Lehrer. Scheler habe indes weniger den Tod als das Altern vor Augen gehabt: "Je älter er wird", so wird Schelers Gedanke resümiert, "desto weniger kann der Mensch sich frei fühlen, desto weniger ist er imstande, den Gesamtsinn seines Lebens durch die Gestaltung seiner Zukunft umzuformen." Aber, so Landsberg, der Tod sei doch mehr als bloß die äußerste Grenze einer biologischen Entwicklung. Es gibt keine zwingende Beziehung zwischen dem Altern und dem Tod: "Die große Mehrheit der Menschen stirbt sehr jung." Hier also kann die Erfahrung, die gesucht wird, nicht zu finden sein.
Der dritte Versuch eines Anfangs geht in die Richtung einer Theorie der Individualität. Gegenüber dem beiläufigen Charakter des Todes unter "primitiven Völkern", wie Landsberg noch mit Levy-Bruhl sagt, wo die Gruppe tun kann, "als ob nichts geschehen wäre", gewinne der Tod mit dem Auftreten einzigartiger Individualitäten an drohender Kraft. Man kann sich fragen, ob eine so reißbrettartige Scheidung von "primitiv" und "entwickelt" wirklich die Sache trifft oder ob nicht eine damals noch rudimentäre Kenntnis der Todesriten in außereuropäischen Gesellschaften Landsberg auf dieses Argument brachte.
Jedenfalls wird der Leser kundig durch die Geschichte der philosophischen Ideen über den Tod geführt, und zwar kritisch und nicht bloß referierend, indem auch die jeweiligen Verdrängungsleistungen etwa der epikureeischen oder stoischen Haltung geduldig analysiert werden. Die Darstellung mündet in das Lob einer christlichen "ars moriendi". Für den Christen existiert "auf Seiten der Ewigkeit nicht mehr nur eine Ideenwelt, sondern es existiert dort eine Person, die das absolute Sein ist" - und mehr als Sein, nämlich Gnade.
Paul Ludwig Landsberg, geboren 1901, starb entkräftet im Lager Oranienburg am 2. April 1944. "Die letzte Geste, die von ihm vor seinem Abtransport in den berüchtigten Krankenbau des Konzentrationslagers berichtet ist, ist ein stummes Kreuzzeichen über die Zurückgebliebenen."
Paul Ludwig Landsberg: "Die Erfahrung des Todes". Herausgegeben mit einer Einleitung und einem Nachwort von Eduard Zwierlein. Matthes & Seitz Berlin, Berlin 2010. 176 S., br., 14,80 [Euro].
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