Georges Canguilhem (1904-1995) war einer der bedeutendsten Philosophen und Wissenschaftshistoriker Frankreichs. Zu seinen Schülern zählen u.a. Michel Foucault, Pierre Bourdieu und Alain Badiou. Über Canguilhems Rolle in der französischen Philosophie der Nachkriegszeit hat Foucault einmal gesagt: "Nehmen Sie Canguilhem weg und Sie verstehen fast nichts mehr von Althusser, vom Althusserianismus und von einer ganzen Reihe von Diskussionen der französischen Marxisten. Sie begreifen nicht mehr, was das Besondere an Soziologen wie Bourdieu, Castel, Passeron ausmacht. Es entgeht Ihnen ein wesentlicher Aspekt der bei den Psychoanalytikern und insbesondere bei den Lacanianern geleisteten theoretischen Arbeit." Erstmals 1955 erschienen, hat das Buch über die Herausbildung des Reflexbegriffs wie kaum ein ande-res den "französischen Stil" der Wissenschaftsgeschichtsschreibung geprägt. Canguilhem führt darin vor Augen, wie sich der moderne Reflexbegriff in einem langfristigen Prozeß der kollektiven Arbeit am Bildlichen und Analogischen herausgebildet hat, der bis in die Antike zurückverweist. Zugleich verdeutlicht er, daß Begriffe wesentliche Bestand-teile der materiellen Kultur und experimentellen Praxis von Wissenschaft sind. Im Verbund des Labors bildet ein Begriff nicht nur Wirklichkeit ab, er stellt nicht nur dar; vielmehr macht er auch sichtbar, bringt Wirklichkeit hervor. Es ist dieser Übergang von der Sprache zum Bild, vom Phänomenologischen zum Phänomenotechnischen der im Mittelpunkt von Canguilhems Studie zum Eigenleben der Begriffe steht.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Ein herausragendes und auch heute lesenswertes Werk der Wissenschaftsgeschichte liegt nun in einer sorgfältigen Übersetzung durch Henning Schmidges vor, lobt Rezensent Michael Hagner. Georges Canguilhem revidierte in seiner 1955 erschienen Geschichte des Reflexbegriffs in der Psychologie die seinerzeit gängige Rückführung der Reflexlehre auf Descartes und verortete ihre Entstehung in der Tradition des Vitalismus, die von der etablierten Wissenschaft als Irrweg angesehen wurde. Die Vorstellung von Wissenschaftsgeschichte als stetige Abfolge sich immer verbessernder Theorien, die sich auf eine Autorität als Stammvater zurückführen lassen, erweist sich hier als Fiktion. Und für den Rezensenten Hagner liegt gerade in der Erkenntnis der Fruchtbarkeit von Irrtümern die Aktualität der methodengeschichtlichen Studie. Denn für die heutige Forschung bedeute dies, sich nicht nur am wissenschaftlichen Mainstream zu orientieren und als Irrtümer erkannte Theorien erkenntnistheoretisch ebenso ernst zu nehmen wie diejenigen, die sich durchgesetzt haben.
© Perlentaucher Medien GmbH
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