Sofia schreibt Listen mit bedingungsloser Leidenschaft. Listen sind ihr Leben – sie ordnen und katalogisieren weit mehr als ihre Gedanken. Sie beruhigen sie, wenn das Leben zu viel von ihr fordert, wenn sie unruhig wird. Und Unruhe empfindet sie wahrlich genug. Denn da wäre die Sorge um ihre
Tochter, die mit halbem Herzen zur Welt kam und der eine lebensgefährliche Operation bevorsteht. Da wäre…mehrSofia schreibt Listen mit bedingungsloser Leidenschaft. Listen sind ihr Leben – sie ordnen und katalogisieren weit mehr als ihre Gedanken. Sie beruhigen sie, wenn das Leben zu viel von ihr fordert, wenn sie unruhig wird. Und Unruhe empfindet sie wahrlich genug. Denn da wäre die Sorge um ihre Tochter, die mit halbem Herzen zur Welt kam und der eine lebensgefährliche Operation bevorsteht. Da wäre ihr Mann Flox, der ihre Sorgen nicht auf die gleiche Weise zu teilen scheint. Da wäre ihre Großmutter, die mit Demenz in einem Pflegeheim lebt und um die sie sich kümmern soll. Und da wäre ihre Mutter, die nie viel von ihren Listen gehalten hat und ihr viel zu wenig über die Identität ihres Vaters verrät. Das alles thematisiert Lena Gorelik (Autorin von „Mehr Schwarz als Lila“, 2017) in ihrem 2016 erschienenen Roman „Die Listensammlerin“.
Während ihre Großmutter, die in der damaligen Sowjetunion aufwuchs, immer mehr ihre Erinnerungen verliert, beginnt Sofia im Trubel vor der OP ihrer Tochter damit, Nachforschungen über ihre Familie anzustellen. Sie ist es leid, von ihrer Mutter hingehalten zu werden, als psychisch gestört stigmatisiert zu werden, und permanent in Sorge um ihre Tochter zu sein. Auswege aus ihrer Misere bilden ihre Listen und ein überraschender Fund in der Wohnung ihrer Großmutter – denn anscheinend ist sie nicht der einzige Mensch, der Listen führte. Jemand anders hat eben solche Listen wie sie geführt und diese in einem Kästchen aufbewahrt. Was hat es damit auf sich? Und wer war der Autor? Was haben diese Listen mit ihrer Familie zu tun?
An diesem Punkt teilt sich die Erzählung in zwei Zeitebenen – die der Gegenwart und die der Vergangenheit, beginnend mit der Kindheit der Großmutter in der früheren Sowjetunion. Zu dieser Zeit bestimmte die Kommunistische Partei über alles, was im Land passierte. Die meisten Menschen fügten sich diesen strengen Vorgaben, doch Grischa, der Sohn von Sofias Großmutter, war ein Freigeist. Ihn lernt der Leser in den Rückblicken kennen, seine Wünsche und Träume, seine Ziele, seine Liebe. Man taucht ein in einen Lebensalltag, der unserem heutigen nicht fremder sein könnte. Ein faszinierender Einblick, der mich sehr fesselte. Auch das Schicksal von Sofia und Grischa berührte mich tief – vor allem Sofias Überforderung und Grischas sensible und gleichzeitig bockige Art.
Ich ging davon aus, dass mir „Die Listensammlerin“ bis zum Ende weiterhin so ausnehmend gut gefallen würde, allerdings war dem leider nicht so. Das hatte subjektive Gründe: Ich verlor zusehends den Überblick über die Zeitebenen. Ich driftete daher für meinen Geschmack zu orientierungslos durch die Geschichte, ohne zu wissen, wo (und wann) ich mich gerade befinde. Hinzu kam ein nüchterner Schreibstil, der anfangs sehr charmant war, am Ende aber dazu beitrug, dass ich keinen emotionalen Bezug zum Geschehen mehr herstellen konnte. Hinzu kam, dass hinsichtlich der Frage nach der Identität von Sofias Vater eine gewisse Spannung aufgebaut wurde. Andeutungen häuften sich und alles schien möglich, doch anstatt mit einer Auflösung zufriedengestellt zu werden, bleibt Gorelik vage. Hier wurde meine Erwartungshaltung leider enttäuscht.
Fazit
„Die Listensammlerin“ von Lena Gorelik konnte mich persönlich leider nicht vollständig überzeugen, obwohl der Anfang äußerst vielversprechend war. Ich tauchte ein in das herausfordernde Leben von Sofia, das von Sorgen und Ärgernissen geprägt ist. Ich mochte ihren Charakter und ihre Eigenart, ihr Leben durch das Anfertigen von Listen eine gewisse Ordnung und sichere Struktur zu verleihen. Auch mochte ich die Verknüpfung mit der Vergangenheit ihrer Familie in der ehemaligen Sowjetunion. Allerdings verlor die Autorin mich auf dem Weg. Der Schreibstil wurde anstrengend, die Zeitsprünge zu unüberschaubar. Für andere Leser aber sicherlich trotzdem eine anregende Lektüre!