Interdisziplinäre Überlegungen zu Möglichkeiten und Grenzen der Erkenntnis
Das Buch besteht aus Essays von elf Wissenschaftlern unterschiedlicher Disziplinen zu Grenzfragen der Erkenntnis. Im Fokus stehen erkenntnistheoretische Fragen, z.B. wie die Welt in unser Bewusstsein gelangt und wie unser
Erkennen der Welt unser Weltbild prägt. Die Naturwissenschaften beeinflussen massiv die Philosophie,…mehrInterdisziplinäre Überlegungen zu Möglichkeiten und Grenzen der Erkenntnis
Das Buch besteht aus Essays von elf Wissenschaftlern unterschiedlicher Disziplinen zu Grenzfragen der Erkenntnis. Im Fokus stehen erkenntnistheoretische Fragen, z.B. wie die Welt in unser Bewusstsein gelangt und wie unser Erkennen der Welt unser Weltbild prägt. Die Naturwissenschaften beeinflussen massiv die Philosophie, wie der Physiker Peter Mulser im Vorwort deutlich macht. "Aus naturwissenschaftlicher Sicht gesehen ist moderne Philosophie im Sinne vergangener Jahrhunderte schwerlich vorstellbar; sie greift nicht mehr." (13)
Ernst von Glasersfeld beschreibt seine Position des radikalen Konstruktivismus. Er moniert, dass es keine von uns unabhängige Realität geben kann, die dennoch für uns erkennbar ist. Als Beispiel erläutert er ein Gottes-Paradoxon byzantinischer Weiser, welches bereits im 3. Jahrhundert bekannt war. Die reale Welt bezeichnet er, wie im Titel seines Beitrags angedeutet, als "Black box". Der Konstruktivismus, wie er ihn vertritt, ist ein Modell des Denkens.
Der Psychologe Thomas Bernhard Seiler beschäftigt sich mit der Frage, wie Weltbilder entstehen. Dabei handelt es sich um allgemeine Betrachtungen zur Welterfahrung und nicht um kosmologische Weltbilder. Sind wir selbst die Schöpfer unserer Weltbilder? Er bezeichnet Weltbilder als komplexe Wissensstrukturen, unterscheidet verschiedene Arten von Wissen, thematisiert die Kulturabhängigkeit von Weltbildern und analysiert die Zeit als Raster des Welterlebens.
Können Naturgesetze, die für den Bereich der unbelebten Natur erschlossen wurden, zu einem Verständnis der belebten Welt führen? Diese Frage untersucht der Physiker Alfred Gierer in seinem Beitrag. Er hält eine Reduktion der Biologie auf die Physik nicht für möglich. Damit grenzt er den Reduktionismus ein, ähnlich wie das schon der Biologe Ernst Mayr in seinem Buch "Die Entwicklung der biologischen Gedankenwelt" getan hat.
Einen sehr anspruchsvollen Beitrag leistet die Mathematikerin Eva Ruhnau. Sie beschäftigt sich mit bewusstem Zeiterleben des Gehirns (Gleichzeitigkeitsfenster) und der Zeit aus physikalischer Sicht. Das bewusste Jetzt hat eine zeitliche Ausdehnung. Schon Einstein hat sich intensiv mit der mentalen und der physikalischen Zeit beschäftigt. Ruhnaus Ziel ist es, einen Beitrag zum Materie-Bewusstsein-Streit zu leisten.
Andrea Sgarro, Professor für Computerwissenschaften, erläutert, wo es Ungewissheit, Unvollständigkeit oder Unentscheidbarkeit in der Mathematik gibt, wie die Wissenschaft mit diesen Effekten umgeht und wie die Weltsicht dadurch beeinflusst wird. Er schlägt die Brücke von der Logik zum menschlichen Gehirn und stellt dessen Fähigkeit heraus, mit Ungewissheit umzugehen.
Bei Physiker Claus Kiefer stehen die Pfeile der Zeit im Fokus. Er erläutert, warum sich die Scherben einer Tasse, die auf den Boden gefallen ist, nicht wieder von selbst zusammenfügen. Wie ist das vereinbar mit den zeitumkehrsymmetrischen Gleichungen der Physik? Die Leser erfahren außerdem, dass die Nahrungsaufnahme dazu dient, die eigene Entropie niedrig zu halten.
"Die Verwechselung von Realität und Virtualität wirkt sich auch auf die Entwicklung des politischen Lebens aus." (205) Informatikprofessor Guiseppe O. Longo erweist sich damit 1995 als weitsichtig. Er thematisiert in seinem Essay die Wechselwirkung von Erkenntnis und Informationstechnik und beschreibt die Informationsrevolution.
Die Essays sind anspruchsvoll und vielseitig. Ist die Natur unser Modell von ihr? Eine Antwort gibt der Hirnforscher Gerhard Roth in seinem Essay: "Wir erleben die Welt als unmittelbar gegeben, als ein einheitliches Ganzes ... Demgegenüber zeigt die Hirnforschung, dass die Wahrnehmungswelt ein Konstrukt des Gehirns ist." (99)