Estland ist bekanntlich das Heimatland der Nixen. An einer wissenschaftlichen Darstellung dieser Spezies hat es bisher gefehlt. Vetemaas Standardwerk bringt diesen Forschungszweig der Dämonologie auf den neuesten Stand und schließt damit eine empfindliche Lücke. Keinen Naturfreund werden diese anmutigen Geschöpfe gleichgültig lassen. Auch der Autor zeigt sich von ihren Reizen entflammt, was ihn jedoch nicht daran hindert, eine exakte Taxonomie zu entwerfen. Seine Pionierarbeit unterscheidet erstmals die Schönhaarigen (Euplocamidae) von den Lauthalsigen (Carrulidae) und die Nackttitten von den Heulsusen. Ohne Kat Menschiks kongeniale Illustrationen, mit denen es üppig ausgestattet ist, wäre dieses Bestimmungsbuch freilich nur halbwegs so verlockend. In ihrer Bearbeitung vermählt sich die strenge Wissenschaft mit der heiteren Kunst. Auf diese Weise ist ein einzigartiges Werk entstanden, ohne das in Zukunft kein Liebhaber der Elementargeister auskommen wird. Übrigens hat es in d er Tschechischen Republik ein Raubdruck im Handumdrehen auf eine Auflage von 40.000 gebracht. Daß ein deutsches Publikum in seiner Wißbegier hinter den östlichen Nachbarn zurückbleibt, ist kaum vorstellbar.
Enn Vetemaa und Kat Menschik erforschen Estlands Nixen
Es gibt Konstellationen, die alle Bemühungen um Sachlichkeit von vornherein unterminieren: "In den meisten Fällen ruft schon die erste Begegnung mit einer Nixe großes Interesse für dieses romantische und gar etwas rätselhafte Wasservölkchen hervor." Das schreibt einer, der sich auskennt, der sich gerade anschickt, aus seinen langjährigen Studien nun endlich jenes Bestimmungsbuch zu schaffen, auf das die naturkundliche Gemeinde gewartet hat. Streng teilt er die estnischen Nixen in Ordnungen, Familien, Gattungen und Arten ein: Von der Sittsamen waschversessenen Rubbelfee (Lavatrix facilis) liest man, der Gemeinen Kopfkratzerin (Capitiradens vulgaris), der Minilesbischen Heulsuse (Lamentosa minilesbica), der Tränenreichen Goldblonden (Auricomata flebilis) oder der Grünhaarigen Kokette (Viridiosa irritans), und diese Klassifizierungen werden im Hauptteil des Bandes durch Anekdoten um die jeweiligen Nixenarten ergänzt.
Nicht selten führen sich Nixen dabei wenig damenhaft auf. Da ist beispielsweise die Flucherin, die scheinbar wahllos und ausgesprochen variationsreich Passanten beleidigt. Daß ihr lautes Schimpfen tatsächlich einer musikalischen Struktur folgt, ist eine ganz frische nixenkundliche Entdeckung, die der Verfasser des Handbuchs stolz präsentiert: Auf eine Exposition (etwa: "Was sabberst du da, verlauster Halbirrer") folgt zuverlässig die eigentliche Verfluchung als Anathema ("Schande über Euch, kariöse Surrealisten"), die von einer Drohung ("Dir helfe ich") und der individuellen Signatur jeder einzelnen Flucherin (etwa: "Sense!" oder "Marihuana") beschlossen wird.
Doch der eifrig um professorale Distanz bemühte Ton kann die Bezauberung des Naturkundlers durch seinen Gegenstand kaum verleugnen: Ob die erste Begegnung mit einer Nixe "beim Licht des Vollmondes stattfindet, wenn sich der verdutzte Debütant, mit klopfendem Herzen im tauschimmernden Gras hockend, an den perlenden Koloraturen einer trällernden Nymphomanin begeistert, oder aber in der gleißenden Mittagsglut eines sonnigen Tages, wenn der Naturfreund unvermutet auf eine Schönhaarige trifft, die hingebungsvoll ihre goldblonden Locken striegelt: stets hinterläßt die Nixe einen unauslöschlichen Eindruck."
So kommt es, daß allmählich und implizit neben der Beschreibung der Nixen auch ein konturiertes Bild des Naturkundlers entsteht, und die berührendsten Passagen sind die, wo in dem Forscher ganz offensichtlich Schüchternheit und Wissensdrang miteinander kämpfen. Am Ende enthüllt er eine langdauernde Freundschaft mit einer Nixe, die als Augenliebe aus großer Distanz beginnt und schließlich fast in eine Art Wochenendbeziehung mündet. Das Buch, das ursprünglich 1983 in Tallinn erschienen ist, trägt unübersehbar den Stempel seiner Entstehungszeit. Der 1936 in Tallinn geborene Autor Enn Vetemaa bemüht sich um eine Poetisierung der tristen Wirklichkeit in der letzten Dekade der Sowjetunion - zwei Jahre später erschien "Die Nixen von Estland" in der gefeierten, aber karg ausgestatteten "Schwarzen Reihe" von Volk & Welt in deutscher Übersetzung.
Das Buch, das jetzt unter dem gleichen Titel in der "Anderen Bibliothek" erscheint, unterscheidet sich sehr von seinem Vorgänger. Bearbeitet und üppig illustriert wurde es von der Zeichnerin Kat Menschik, die sich bemüht, Vetemaas Nixen ihre Schroffheit zu belassen. Sie vermeidet die Untiefen der süßlichen Nixenikonographie des späten neunzehnten Jahrhunderts und reproduziert besonders in den Detailaufnahmen etwa von Haar oder Werkzeug der Meerfrauen den Blick des Naturforschers. Daß sich der Schwerpunkt des Bandes dabei gründlich vom Text auf die Illustrationen verlagert hat, ist zu verschmerzen. Menschik erweist sich jedenfalls als genauso nixenbesessen wie Enn Vetemaa. Mit diesem Prachtband dürfte sich die kleine Gemeinde rasch erweitern.
Enn Vetemaa: "Die Nixen von Estland". Ein Bestimmungsbuch. Aus dem Russischen übersetzt von Günter Jäniche. Bearbeitet und illustriert von Kat Menschik. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2002. 336 S., geb., 29,50 [Euro].
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