"Ich wollte eine Heranwachsende beschreiben, die einem Wahn erliegt", sagt die gebürtige Schweizerin Fleur Jaeggy über ihren Roman. Sie führt den Leser in ein Mädchenpensionat der sechziger Jahre, das "Bausler" im schweizerischen Appenzell, einen Ort, paradiesisch oder infernalisch, denn hier werden Mädchen diszipliniert, "bis die Disziplin selbst zur Lust wird".
Fleur Jaeggy berichtet aus dem Töchterinstitut
Ruhmbedeckt und erfolgreich erreicht der schmale Band die deutschsprachigen Leser: Achtzigtausend Exemplare des italienischen Originals sind schon verkauft, neun Übersetzungen liegen bis dato vor. In Italien erhielt die Novelle gleich drei Preise, und auch die internationale Kritik - von Paris bis New York - schwärmte von der "schwindelerregenden", der "hypnotischen Intensität" dieses Textes.
Fleur Jaeggy, in Zürich geboren und seit Jahrzehnten in Mailand ansässig, hat in der Tat ein bemerkenswertes, ein respektables Buch geschrieben. Warum will sich beim Rezensenten Begeisterung über "Die seligen Jahre der Züchtigung" dennoch nicht einstellen? Wie wir aus Selbstaussagen wissen, verwertete die Autorin für ihren Bericht über verzweifelte Jugend eigene Erlebnisse. Die Geschichte spielt in den fünfziger Jahren in der geschlossenen Welt der Schweizer Mädchenpensionate. Kinder aus gutem Haus und schlechten Ehen werden darin gegen viel Geld aufbewahrt und abgerichtet: Aus höheren Töchtern sollen im "Töchterinstitut" künftige Mütter höherer Töchter werden.
Ohne sichtbaren Zorn blickt die Ich-Erzählerin vor allem auf jene Zeit zurück, die sie als Fünfzehnjährige in einem Appenzeller Internat verbrachte. Den alten Vater sah sie damals bestenfalls kurz in den Ferien in Hotels, seine selten eintreffenden Briefe waren stets mit "Pro Juventute"-Marken frankiert, während "Maman" in Brasilien sich überhaupt auf postalische Anweisungen für ihre Erziehung beschränkte. Die Aufmerksamkeit der Heiminsassin galt beinah exklusiv der geheimnisvollen Mitschülerin Frédérique. Deren Begabung, Disziplin und hochmütige Verschlossenheit faszinierten sie über alle Maßen. War es - gar verbotene, erotisch gefärbte - Freundschaft, die beide verband? Wohl nur bedingt. Über Gespräche und Spaziergänge gelangte die verkappt masochistische Beziehung nie hinaus. Reden wurde zum Ersatz. Bald verließ Frédérique das Töchterinstitut wieder; als Erwachsene, die versucht hat, ihre Mutter zu verbrennen, endete sie im Irrenhaus.
Fürwahr, eine traurige Geschichte, eine unmögliche Liebesgeschichte. Erstaunlich ist daran die ebenso präzise wie leise Kälte von Fleur Jaeggys Diktion. Denn genauer betrachtet geschieht hier fast nichts, doch dieses Nichts ruht auf bedrohlichem, gewaltsam niedergehaltenem Untergrund. Auch an buchstäblichen schönen, unverbrauchten und verblüffenden Wendungen mangelt es keineswegs, im Gegenteil: Psychologische Klugheit geht Hand in Hand mit poetischer Eleganz, deren Valeurs Barbara Schadens deutsche Fassung durchaus zu bewahren vermag. Trotzdem fehlt irgend etwas, und irgend etwas stört. Ein Satz wie "Mit intensiver Freude nahm ich den Schmerz und die Verlassenheit vorweg" beispielsweise sagt alles, ohne einen atmosphärischen Mehrwert zu vermitteln: Wir lesen und begreifen, was wir nicht wirklich spüren. Anders gesagt, weiß die Erzählerin zu viel, um uns in den Sog des Verhängnisses zu ziehen - sie analysiert ihn klarer, als sie ihn darstellt, sie informiert und schafft zugleich emotionale Distanz. Hinzu kommt eine betonte Todesmetaphorik, die den Eindruck des Schematischen erweckt: Allzu nachdrücklich werden wir auf das Morbide der Konstellation hingewiesen, das wir längst verstanden haben. Darum verdient Fleur Jaeggys Buch unsere Hochachtung, bewundern mögen es andere. ULRICH WEINZIERL
Fleur Jaeggy: "Die seligen Jahre der Züchtigung". Novelle. Aus dem Italienischen übersetzt von Barbara Schaden. Berlin Verlag, Berlin 1996. 120 S., geb., 29,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Mit seiner hypnotischen Intensität ein fesselndes Buch, eines, von dem man verfolgt wird: machtvoll, kaum mehr abzuschütteln." (New York Review of Books)
Perlentaucher-Notiz zur FAS-Rezension
Rezensentin Annabele Hirsch wirkt sehr fasziniert von Fleur Jaeggys literarischem Werk, das der Suhrkamp Verlag aktuell Stück für Stück neu auflegt, endlich auf Deutsch, jubelt Hirsch. Aber auch im italienischen Original, in dieser "so unkühlen Sprache", entfaltet sich die Hauptqualität von Jaeggys Schreiben, die Hirsch staunend beschreibt: als eine sich ausbreitende "Kälte", die den Lesenden einerseits die Leblosigkeit der Figuren betrauern lässt, die aber andererseits Bewunderung für eine kalte Perfektion auslöst und zum Weiterlesen animiert. So treten in Jaeggys Erzählungen und Romanen - erschienen sind bisher der Roman "Die seligen Jahre der Züchtigung" und die beiden Erzählbände "Ich bin der Bruder von XX" und "Die Angst vor dem Himmel" - meistens Figuren auf, die sich ins große Nichts des Todes wünschen, jeden "Keim" des Lebens in sich erstickt haben oder sich nicht aus einer emotionalen Starre befreien können, gibt Hirsch wieder. Besonders gelungen, wenn auch verstörend, findet sie die Geschichte "Der Vogelkäfig", in dem ein Mann seine Frau zur Selbsterniedrigung vor dem Kostüm seiner verstorbenen Mutter zwingt. Wie Jaeggy "bis zur Perfektion" an diesem zwiespältigen Ideal von "Askese und Disziplin" schriftstellerisch arbeite, ist für die Kritikerin enorm eindrücklich. Sie findet hier weniger den von Reich-Ranicki behaupteten "Charme" als ein unerbittlich unterdrücktes Feuer unter einer Eisschicht.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
»[Jaeggy] ist eine Virtuosin des Entsetzlichen ... [Ihre] Geschichten bannen die grausame Absurdität des Schicksals mit absoluter Offenheit und einer großen Sympathie für alle, die von ihr betroffen sind.« Pascal Moser Süddeutsche Zeitung 20240725