Produktdetails
- Verlag: Ammann
- Seitenzahl: 281
- Abmessung: 185mm
- Gewicht: 298g
- ISBN-13: 9783250103813
- Artikelnr.: 07103911
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Neues aus Fernando Pessoas Truhe / Von Harald Hartung
Die Welt liebt das Genie, den großen einzelnen, der unbeirrt seiner Mission folgt. Der wahrhaft geniale Fernando Pessoa aber schwankte zwischen Mission und Demission. Er unterhielt eine höchst eigenartige Beziehung zu seiner Karriere. In den frühen Artikeln für die Zeitschrift "Águia" (Der Adler) prophezeite er seinem Land einen "Super-Camôes", dessen Erscheinen bevorstehe. Er behielt recht: Nur war es der Prophet selbst, der zum Messias wurde. Pessoa wurde zum "Super-Camôes" - super nicht etwa wegen seiner eigenen Größe, sondern weil er der portugiesischen Literatur mindestens drei weitere große Dichter schenkte: Alberto Caeiro, Ricardo Reis und Álvaro de Campos.
Sie alle waren Erfindungen Pessoas, gedichtete Dichter. Er gab jedem dieser Heteronyme ein eigenes Werk und eine eigene Biographie. Der Schöpfer dieser Dichter-Plejade, dieses "Drama in Leuten" verstand sich lediglich als ihr Sprachrohr, ihre "persona". Dazu paßt, daß sein eigener Name diese Anonymität betont. "Uma pessoa" ist portugiesisch soviel wie jemand, irgendwer.
Das alles war nicht gerade karrieredienlich. Zumal der eigentliche Schöpfer nur wenig unternahm, Freunden und potentiellen Rezensenten sein Heteronym-Kartenspiel offenzulegen. Er schien vielmehr seine Energien zersplittern und jede wirkliche Resonanz verhindern zu wollen. Publizieren galt ihm fast als Verlust der Unschuld. 1914, in einem Brief an die Mutter, heißt es: "Ich verliere etwas - das Unveröffentlichtsein." Später schrieb er von der "Traurigkeit der Berühmtheit" und meinte, der "Mensch mit dem unbekannten Genie" habe das schönste aller Schicksale. Wozu paßt, daß diese "Ästhetik der Abdankung" zu Pessoas Lebzeiten nie erschien. Er tat sein Bestes in die sprichwörtliche Schublade. Sie hatte bei ihm die Gestalt einer riesigen Tube, angefüllt mit Tausenden von Manuskripten und Entwürfen. Ihr Inhalt machte den toten Pessoa zu einem der Großen des Jahrhunderts.
Aus dieser Truhe stammt auch das Material, mit dem Frank Henseleit-Lucke die von Georg Rudolf Lind begründete deutsche Werksausgabe fortsetzt. Nach der Publikation der Hauptwerke geht es um Ergänzung und Nachlese. Was eben heißt, daß nun auch mancherlei vom Boden der Truhe zum Druck kommt. Aber auch Wichtiges, ja Zentrales. So sind für den abschließenden achten Band die ästhetischen Theorien der Heteronyme vorgesehen. Hier, in Band VII, kommt noch einmal Pessoa selbst mit höchst unterschiedlichen Texten zu Wort. Der Titel "Herostrat. Die ästhetische Diskussion I" gibt von dieser Melange allenfalls eine Andeutung. Doch zweifellos ist der titelgebende Text mit Abstand der interessanteste.
"Herostrat", ein 1925 englisch geschriebener und nicht völlig ausgearbeiteter Essay, handelt über literarischen Nachruhm und Vergänglichkeit. Der Mann, der den Dianatempel in Ephesos in Brand steckte, um seinen Namen zu verewigen, liefert gleichsam nur den Dateinamen für diverse Reflexionen. "Herostrat" ist ein großangelegtes Brouillon, eine Sammlung von Digressionen. Aber diese Abschweifungen haben ein obstinates Thema: eine großangelegte poetologische Selbstverständigung vor dem Horizont der Epoche: Was macht den großen Dichter aus? Was muß man tun, um ein solcher zu werden? Wenn Pessoa vom genialen Menschen redet, untersucht er die eigenen Chancen: "Der geniale Mensch hat heute größere Möglichkeiten als irgendwann zuvor . . . Er kann zwar sicher sein, ein Publikum zu finden, aber keineswegs sicher, ob er imstande ist, es anzusprechen. Er kann mit Verständnis rechnen, aber nicht wissen, ob er es auch wirklich bekommt." Eben das wird Pessoas Problem sein: ein Verkanntsein, das halb gewählt, halb durch die kulturelle Situation seines Landes bestimmt ist. Als verschiedene Publikationsversuche gescheitert waren und Pessoa in eine Krise geriet, blieb für "Herostrat" nur die Truhe.
Pessoa fragt nach Ruhm und Repräsentanz. Er prüft die Frage an den Großen der Weltliteratur, vor allem an Victor Hugo und Shakespeare. Hugo wirft er vor, seine Zeit als Genie, wenn auch nicht als Autor verschwendet zu haben. Shakespeare dagegen erscheint als das Genie, das alle Möglichkeiten hatte und nutzte. Einmal heißt es: "Edgar Wallace ist spannender als Walter Scott, aber Edgar Wallace ist nicht spannender als Shakespeare. Es steckt ein Edgar Wallace in Shakespeare." Sehr interessant auch die Reflexionen über "Vollkommenheit" versus "Repräsentativität". Da muß Keats zugunsten Shakespeares zurücktreten, und Walt Whitman überlebe, weil er die gesamte moderne Zeit in sich habe.
Aber Pessoa wollte nicht bloß ein "multipersonaler" Dichter wie Shakespeare sein, sondern auch einer, der in allen Gattungen brilliert. Band VII bringt ein Beispiel für seine dramatischen Ambitionen. Doch "Der Seemann", eine an zwei Oktobertagen 1913 geschriebene Skizze, zeigt Pessoa befangen in einem etwas schwülstigen und epigonalen Symbolismus. In einer alten Burg überm Meer unterhalten sich drei "Jungfrauen" über Traum und Vergangenheit. Eine sagt: "Kommen wir dem Leben besser nicht zu nahe, nicht einmal dem Saum unserer Gewänder." Dabei bleibt es denn auch: der titelgebende Seemann ist lediglich ein Phantom. In einer Notiz aus jener Zeit rettet Pessoa mit dem Begriff "statisches Theater" die Idee - aber nicht das Stück.
Mehr Glück hatte Pessoa als Erzähler. Freilich wirkten die bisher auf deutsch erschienenen Erzählungen wie Nebenwerke. Pessoa, der auch in der Prosa mit diversen Heteronymen und Maskierungen operierte, hat keinen Narrator geschaffen, der ähnlich profiliert gewesen wäre wie seine lyrischen Heteronyme. Der außerhalb der Werksausgabe erschienene Sammelband "Die Stunde des Teufels" soll das Bild vom Epiker Pessoa zumindest modifizieren. Er enthält unter anderem auch die früher erschienenen Geschichten "Ein höchst originelles Abendessen" und "Der Bankier als Anarchist" in neuer Übersetzung.
Eine kleine Sensation aber ist die erst kürzlich aufgefundene erweiterte Fassung des "Bankiers" aus Pessoas Todesjahr 1935. Hier wird der politische Diskurs um einige zeitgeschichtliche Facetten bereichert. "Tyrannei ist Tyrannei", sagt nun der Bankier und sieht in der Ablösung des bürgerlichen durch ein kommunistisches System keinen Fortschritt: "Das wäre so, wie einen Gefangenen von Zelle 23 in Zelle 24 zu verlegen." Und auf die etwas später gestellte Frage, woran der gegenwärtige Zustand in Rußland erinnere, kommt die Antwort "An ein Jesuitenkolleg" und die politische Pointe: "Die Jesuiten haben wenigstens noch das Jenseits zur Entschuldigung. Die Kommunisten aber sind die Jesuiten ohne Entschuldigung."
Bleibt zu erwähnen, daß Pessoa offenbar auch gern ein portugiesischer Edgar Wallace gewesen wäre. Als er - zehn Monate vor seinem Tod - noch einmal an eine Publikation seiner Arbeiten dachte, schwankte er, ob er mit einem Gedichtband oder mit einem Detektivroman beginnen sollte. Der Tod enthob ihn der Entscheidung. Unter den nachgelassenen Erzählungen findet sich eine Reihe von Fragmenten unter dem Titel "Quaresma, Dechiffrierer". Die erste dieser Erzählungen beginnt gleich mit einer Kategorisierung der menschlichen Intelligenz. Da wissen wir, daß wir nicht zu Pessoa greifen sollten, wenn wir etwas à la Edgar Wallace lesen wollen. Auch multiple Genies haben ihre Grenzen.
Fernando Pessoa: "Herostrat - Die ästhetische Diskussion I". Band VII der Werkausgabe. Aus dem Portugiesischen übersetzt von Georg Rudolf Lind, Josefina Lind und Frank Henseleit-Lucke. Herausgegeben von Frank Henseleit-Lucke. 206 S., br., 48,- DM.
Fernando Pessoa: "Die Stunde des Teufels und andere Geschichten". Aus dem Portugiesischen übersetzt von Georg Rudolf Lind, Josefina Lind und Frank Henseleit-Lucke, 282 S., geb., 29,80 DM. Beide im Ammann Verlag, Zürich 1997.
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