' Sonntag, 3. September 1939,an Bord der Athenia, 19.38 Uhr.Edith Lustig schlendert über dasPromenadendeck des britischenOceanliners und hat noch eineMinute zu leben.'Sie war das letzte Schiff, das Europa im Frieden verließ - und das erste, dasim Zweiten Weltkrieg von einem deutschen U-Boot versenkt wurde: Auf derAthenia waren über tausend Passagiere auf dem Weg von Glasgow nachMontreal,darunter amerikanische Touristen, polnische und deutsche Juden,andere Verfolgte der Naziherrschaft und britische Geschäftsleute. Der Kommandantvon U30 hielt das Schiff für einen Truppentransporter und schoss -118 Passagiere ertranken.In einer Reihe von Einzelszenen deckt Cay Rademacher erstaunliche Zusammenhängeder Tragödie auf: So befindet sich die kleine Tochter des FilmregisseursErnst Lubitsch unter den Passagieren der Athenia. Um die amerikanischenÜberlebenden zu betreuen, schickt der US-Botschafter in London seinen Sohnnach Glasgow: Sein Name ist John F. Kennedy.Es sind die zahlreichen präzise und lebendig geschilderten Details, die dieGeschichte einer vergleichsweise kleinen Katastrophe zum genauen Abbildeiner Zeit und ihrer Atmosphäre werden lassen. In der Welt der Athenia fängtRademacherein Spiegelbild Europas am Rande des Abgrunds ein und entfaltetein spektakuläres Panorama der ersten Tage des Zweiten Weltkrieges.
Untergang der "Athenia"
Vielleicht ist das besser zu hören als zu lesen, denn das war ursprünglich ein Hörbuch. Ein Lese-Buch ist es nämlich nicht, eher eine sensationslüsterne Kolportage, die nur zu oft auf die Tränendrüse drückt und nicht an den Verstand der Leser appelliert. An sich ist es verdienstvoll, an das Schicksal dieses Schiffes zu erinnern, dem ersten Opfer des U-Boot-Krieges. 112 Menschen starben. Die "Athenia" wurde auf ihrer Reise von England nach Kanada schon am 3. September 1939 von "U-30" irrtümlich torpediert. Entsetzt ob der absehbaren Folgen, leugnete die Seekriegsleitung diesen Angriff, Reichspropagandaminister Goebbels suchte ihn als "Provokation" England in die Schuhe zu schieben. Das Kriegstagebuch des fatalen U-Bootes wurde gefälscht. Erst nach Kriegsende tauchte alles wieder auf und spielte im Nürnberger Prozess gegen die Großadmirale Raeder und Dönitz eine eher kleine Rolle.
Den "Fall Athenia" hätte man zum Anlass nehmen können, um über die komplexen Zusammenhänge zwischen Prisenordnung, U-Boot-Protokoll, unbeschränktem U-Boot-Krieg, Neutralität der Vereinigten Staaten und dem Nürnberger Prozess nachzudenken. All das fehlt. Dafür leistet sich der Autor ärgerliche Schnitzer: Kapitäne werden mit Kommandanten und diese mit jenen verwechselt; den uralten Märchenerzählungen des Dolmetschers Paul Otto Schmidt und denen von Karl Dönitz sitzt Cay Rademacher kritiklos auf; in das veröffentlichte Kriegstagebuch der Seekriegsleitung hat er anscheinend keinen Blick getan. Die naheliegende Frage, warum Kapitän Cook die "Athenia" unter Inkaufnahme zahlreicher Toter überhastet räumen ließ, obwohl der Liner noch fünfzehneinhalb Stunden schwamm, wird nicht gestellt. Ärgerlich ist die Nonchalance, mit der blanke Erfindungen und Ondits der Überlebenden ("Kapitän Cook führte gerade einen Löffel Suppe zum Mund", als das Schiff torpediert wurde) mit historischen Fakten vermengt werden - das wirkt schlicht unseriös.
MICHAEL SALEWSKI
Cay Rademacher: Drei Tage im September. Die letzte Fahrt der Athenia 1939. Verlag marebuch, Hamburg 2009. 317 S., 22,- [Euro].
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