Bilderreich aber lakonisch versucht Wilhelm Lehmann, die Welt zur Welt zu machen. Während seine Lyrik auf präzisen Beobachtungen der Natur und eigenen botanischen Studien fußt und sich mit Motiven der Bildungstradition an nicht wenigen Stellen verbindet, sind Lehmanns Erlebnisse als Deserteur und Kriegsgefangener, später als Gymnasiallehrer Hintergrund der Romane. Sein 'Bukolisches Tagebuch' wiederum steht in der Tradition des anglo-amerikanischen nature writing, dient aber auch als Lyrik-Werkstatt.Im Lesebuch finden sich über 50 Gedichte aus der Zeit von 1908 bis kurz vor Lehmanns Tod im Jahr 1968. Hinzu kommen Auszüge aus den frühen, stark autobiographischen Romanen, aus dem 'Bukolischen Tagebuch' und aus poetologischen Essays sowie drei Übersetzungen englischer Lyrik.
Die Rückkehr des Dichters Wilhelm Lehmann
Wilhelm Lehmann - das war einmal ein großer Name der Lyrik. In den fünfziger Jahren als Haupt der modernen Naturlyrik gefeiert, wurde der Dichter von den Achtundsechzigern angefeindet und von der Ökobewegung ignoriert. Heute versammelt eine Wilhelm-Lehmann-Gesellschaft die Freunde des Dichters, jungen Lyrikern erscheint seine Maxime nicht länger obsolet: "Welches ist das Geschäft der Welt? Da zu sein. Welches ist das Geschäft der Dichtung? Der Welt bei diesem Vorhaben zu helfen."
Neue Leser sind Lehmann zu wünschen. Ihnen kommt ein schön gemachtes "Lesebuch" entgegen. Es umfasst die gesamte Skala seines Schaffens. Es bringt frühe unveröffentlichte Gedichte, Stücke seiner reifen Naturlyrik, Partien aus den autobiographischen Romanen, poetologische Essays und Ausschnitte aus dem klassisch gewordenen "Bukolischen Tagebuch".
Die Auswahl dementiert das einst von Gottfried Benn lancierte Verdikt, Lehmann sei ein "Bewisperer von Moosen und Gräsern". Man muss nur eines seiner Gedichte aus dem Zweiten Weltkrieg dagegenhalten. Etwa "Auf sommerlichem Friedhof (1944)": "Sirene heult, Geschützmaul bellt. / Sie morden sich: es ist die Welt." Nein, der Dichter des "Grünen Gottes" war nicht zeitfremd. Er hatte den Ersten Weltkrieg mitgemacht, und er wusste, was mit dem Dritten Reich über Deutschland kam.
Das lenkt den Blick auf Lehmanns Biographie. Der amerikanische Literaturwissenschaftler David Scrase hat sie geschrieben: materialreich, ja erschöpfend, auch im Doppelsinn des Wortes. Scrase standen viele Quellen zur Verfügung, darunter Lehmanns Tagebuch und die Korrespondenz. Wohl deshalb holt er bei Kindheit und Jugend allzu weit aus. Was die Biographie gleichwohl lesenswert macht, sind die Kapitel, die Lehmanns politischen Erfahrungen gelten: seiner Desertion im Ersten Weltkrieg und seinem Verhalten im Dritten Reich.
Der junge Dichter erlebte den Krieg als Schock. Der erste Versuch einer Desertion scheiterte, ein zweiter gelang. Nach Kriegsende und Heimkehr konnte Lehmann seine literarische Karriere fortsetzen. Als die Nationalsozialisten die Macht ergriffen, war der unwillige Frontkämpfer gegen Propaganda und Machtwahn imprägniert. Dennoch trat Studienrat Lehmann, der die "scheußliche Hakenkreuzfahne" an der Eckernförder Schule gehisst sah, im Mai 1933 in die NSDAP ein. "Ich Feigling!", notierte er. Das Schuldgefühl verließ ihn lebenslang nicht. Zumal dem jüdischen Freunde Werner Kraft gegenüber, dem Lehmann aus dem noch nicht besetzten Dänemark nach Palästina schrieb.
Scrase schildert die Umstände, unter denen Lehmann während des Dritten Reiches lebte und publizierte. Der erste Gedichtband des 53 Jahre alten Lehmann hieß ungewollt vielsagend "Antwort des Schweigens" und erschien 1936 im Widerstands-Verlag des Nationalbolschewisten Ernst Niekisch. Scrase zieht die Linien aus, die sich aus diesem Stichwort ergeben. Im April 1936 notierte Lehmann: "Wir müssen uns endgültig zur ,alten, erledigten Generation' rechnen und müssen zufrieden sein, wenn man uns ungestört zu Ende leben lässt."
Da konnte der Dichter nicht ahnen, dass ihm sein Erfolg noch bevorstand. Die fünfziger Jahre brachten den Ruhm. Freilich wurde 1968, in Lehmanns Todesjahr, die Poesie totgesagt. Paul Valéry hat davon gesprochen, dass wichtige Autoren durch eine Phase der Geringschätzung hindurchmüssen. Es könnte sein, dass diese Phase für Lehmann zu Ende geht.
HARALD HARTUNG.
Wilhelm Lehmann: "Ein Lesebuch". Ausgewählte Lyrik und Prosa.
Hrsg. von Uwe Pörksen, Jutta Johannsen und Heinrich Detering. Wallstein Verlag, Göttingen 2011. 160 S., geb. 14,90 [Euro].
David Scrase: "Wilhelm Lehmann". Biographie.
Aus dem Englischen von Michael Lehmann. Wallstein Verlag, Göttingen 2011. 440 S., geb. 34,- [Euro].
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'Neue Leser sind Lehmann zu wünschen. Ihnen kommt ein schön gemachtes 'Lesebuch' entgegen.' (Harald Hartung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.06.2012)