Atemlose Spannung: Jürgen Schreibers brillante Biographie des Malers Gerhard Richter / Von Eduard Beaucamp
Spätestens seit seinem Baader-Meinhof-Zyklus von 1988 hat man versucht, aus Gerhard Richter, der in seinem Lebenswerk zahllose Stil-Modalitäten und Maler-Rollen durchgespielt hat, auch einen Historienmaler, ja einen großen Moralisten der deutschen Zeitgeschichte zu machen. Ein kleineres Bild wie "Onkel Rudi" (1965), eine Grisaillenmalerei nach dem Foto eines Oberstleutnants der Wehrmacht auf Heimaturlaub, der später in Frankreich bei der Invasion der Alliierten fiel, avancierte in den neunziger Jahren zu einer Ikone der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Man wußte auch um die besonderen Bewandtnisse eines anrührenden Kinderidylls mit dem Titel "Tante Marianne". Es zeigt das "vermalte" Foto eines vierzehnjährigen Mädchens, das vor sich auf einem Gartentisch ein Baby hält. Es sprach sich herum, daß Richters Tante Marianne dreizehn Jahre später als "Geisteskranke" (Diagnose: Schizophrenie) von den mörderischen Medizinern der nationalsozialistischen "Euthanasie"-Kampagne umgebracht wurde. Richter hatte das Bild 1965 noch ohne genaue Kenntnis von dem Schicksal seiner Tante gemalt.
"Familie am Meer", ein Großformat aus den Jahr 1964, stützt sich auf ein Urlaubsfoto mit grinsenden Badegästen von 1936: Der dominante Vater ist Richters späterer Schwiegervater, der Dresdner Gynäkologie-Chefarzt Eufinger, der, was bisher nicht bekannt war, SS-Obersturmbannführer und Zuarbeiter des "Euthanasie"-Programms war. Allein in seiner Klinik und unter seiner Regie fanden neunhundert Sterilisierungen statt. Tante Marianne war schon 1938 in Eufingers Klinik operiert worden, bevor sie in diverse sächsische Nervenheilanstalten eingewiesen wurde.
Weiter malte Richter im Jahr 1965 nach einem flüchtigen Zeitungsfoto mit Bildunterschrift - Andy Warhol war damals Richters Vorbild - den "Herrn Heyde", den Hauptstrategen des Tötungsprogramms an geistig Behinderten, nach seiner Verhaftung im Jahr 1959. Heyde, der sich 1964 in seiner Gefängniszelle erhängte, war, wie so viele NS-Verbrecher im Westen (aber auch im Osten), mit Hilfe von Gesinnungsfreunden unter falschem Namen untergetaucht und erst 1959 enttarnt worden.
Zwei dieser Bilder sind kleinformatig, die "Tante Marianne" ist mittelgroß, und nur das Urlaubsbild hat monumentale Ausmaße. Die vier Bilder sind die Kronzeugen in einer brillanten Studie des Berliner Journalisten Jürgen Schreiber. Für den Autor ergeben die vier Bilder ein "Requiem, ein Kolossalgemälde vom Zusammenbruch einer humanen Welt". Was zusammenhangslos erscheine, so Schreiber, ergebe doch "ein zusammenhängendes System". Jeder Teil "verweist auf das Ganze": "am Ende sind es Gewißheiten über die bleiche Mutter Deutschland."
Mit Hilfe seiner vier Kronzeugen inszeniert Schreiber mit erzählerischem Geschick sein deutsches Requiem. Mit archäologischer Akribie ergräbt und verdichtet er ein Stück Durchschnittsleben im Dritten Reich, das sich von der bürgerlichen Mittelklasse-Normalität zum kriminellen Alltag verschiebt. Schreiber scheut nicht das Pathos, er ist oft selbst ergriffen ob seiner gespenstischen Funde: "Vor dem Hintergrund des glutroten Scheins über dem brennenden Dresden ist es jetzt an der Zeit, die realen Personen aus ihren Gemälden treten zu lassen, ehe sich ihre Spur vollends verliert."
Der Autor durfte in Gerhard Richters privatem Familienarchiv und seinen Fotoalben stöbern. Er spürte im Leipziger Staatsarchiv die Patientenakte von "Tante Marianne" auf und konnte so ihre Passion exakt rekonstruieren. Er erforschte Richters Herkunft, das Familienmilieu, die Spannung zum Vater, einem Lehrer und kleinen Parteimitglied, der nach dem Krieg nicht wieder auf die Beine kam und sich 1968 nach dem Tod von Richters Mutter umbrachte, während hohe Charge unbehelligt blieben und ein Täter wie Gerhard Richters Schwiegervater, der Chefarzt Eufinger, nach einer dreijährigen Internierung im Lager Mühlberg seine Karriere bis hinein in den Westen fortsetzen konnte und hochgeehrt starb. Schreiber erzählt minutiös die Biographien der Täter und Opfer im Umfeld von "Tante Marianne" und dokumentiert am Ende auch den Dresdner Prozeß gegen die Ärzte und Pfleger des sächsischen "Euthanasie"-Programms von 1947, der mit vier Todesurteilen und hohen Haftstrafen endete.
Man liest das Buch mit fast atemloser Spannung und wachsender Beklemmung. Am Ende hat man das Gefühl, daß der junge Maler Richter 1961 mit der Übersiedlung in den Westen nicht nur die trostlose Deutsche Demokratische Republik hinter sich bringen wollte, sondern vor allem die düstere Vergangenheit. Am Beispiel Richters hebt Jürgen Schreiber einen Stein im Gefüge deutscher Alltagsgeschichte auf, unter dem sich Unrat und Natterngezücht angesammelt haben. Das Erstaunen und Entsetzen darüber ist der Grundton seines Buchs. Dresden aber war überall. Die versteckte, geleugnete, verdrängte Erblast beherrschte Nachkriegsdeutschland.
In den sechziger Jahren, als Richters Bilder entstanden, fanden die trügerisch wiederhergestellte Normalität, die fadenscheinige biedere Idyllik und die verbreitete Unschuldskosmetik ein jähes Ende durch den Eichmann-Prozeß in Jerusalem und das Frankfurter Auschwitz-Tribunal. Unruhe schüttelte die Republik. Die Aufdeckungen brachten die Kinder, die endlich begriffen, was geschehen war, gegen ihre Väter auf. Um 1965 entstanden übrigens nicht nur einige der Richter-Bilder, sondern auch ein so fundamentaler Zyklus wie die "Lebenserinnerungen des Dr. jur. Schulze" des Leipziger Malers Werner Tübke, der die Verbrechen der nationalsozialistischen Justiz mit Hilfe avancierter Bildmethoden wie der Bewußtseinsanalyse einkreiste und analysierte.
So bezwingend und vielschichtig die Darstellung des Buches auch ist, sie läßt dennoch viele Fragen offen: Sind die Bilder Richters wirklich die große Gewissenserforschung und Schuldabrechnung, das Stück "Trauerarbeit", das wir in der westdeutschen Nachkriegskunst so schmerzlich vermissen? Fügen sie sich zum "kolossalen deutschen Requiem"? Hinter dem gutgelaunten Urlaubsbild von "Onkel Rudi" steckt ein millionenfaches Soldatenschicksal. Die Familie am Meer hat Richter ohne Kenntnis der Schuld und Verstrickung seines Schwiegervaters Eufinger gemalt. Als Richter 1965 das Kinderfoto von Tante Marianne aus dem Familienalbum herausfischte, mag er an traurige Erinnerungen im Kreise seiner Familie gedacht haben, ohne doch die genauen Umstände ihres Todes zu kennen. Aber daß hier intuitiv die "Figur des Todes" und die "Tragödie" "eingemalt" sei, darf bezweifelt werden.
Wo die Evidenz der Bilder fehlt, suggeriert oder erzwingt Schreiber Zusammenhänge. Richter, so behauptet er einmal, habe "die Wahrheit herbeigemalt". Oder er schreibt: Der Künstler "lernte im Alter von 73 zu verstehen, was es bedeutet, sie (die Tante Marianne als Kind) mit 33 gemalt zu haben". Schließlich rettet sich der Autor ins Paradox: "Trotzdem liefert Richter Beiträge zur Aufklärung, auch deshalb, weil er nichts erklärt und die Deutungen anderen überantwortete."
Der nachhelfende interpretatorische Übereifer resultiert zweifellos auch aus einer konstitutionellen Schwäche oder trotzigen Eigenart von Richters Kunst. Der Maler ist nicht müde geworden zu versichern, und er hat dies in scharfsinnigen Kommentaren immer wieder von neuem begründet, daß er für seine Kunst jedes Urteil, jede Tendenz, jede Absicht, jeden Sinn, jede Eindeutigkeit und Wahrheit, vor allem aber jede Idee und Ideologie und jeden verbindlichen und zwanghaften Stil ablehne. "Der Schein", so schreibt er noch 1989, "ist mein Lebensthema." Und: Der Maler "sieht den Schein der Dinge und wiederholt ihn, das heißt, ohne die Dinge selbst herzustellen, stellt er nur ihren Schein her". Die Fotografie, sein Hauptinstrument, ist der perfekte Schein: Sie entlastet von der Wirklichkeit und ihrer Ergründung. Jürgen Schreibers Bohrungen gelingt es, hinter die Fotos und Richters Fotomalerei zu blicken und dahinter der Wirklichkeit habhaft zu werden. Im Dienste der Aufklärung übertrifft sein Buch die Bilder Richters, die allenfalls Fingerzeige und Wegweiser bieten.
Richter ist ein Meister der Indifferenz, der Verweigerung und Neutralisierung jeder Aussage, ein Virtuose des "Zermalens" und "Vermalens" der Motive, wie er selbst sein Verfahren nennt. Seine Grisaille-Technik der sechziger Jahre ist keineswegs dem "deutschen Requiem" vorbehalten. Zwischen 1964 und 1970 entwickelt der Künstler in dieser Manier ein krauses Repertoire, das in seiner Mischung jede Tendenz und Botschaft durchkreuzt: Motorboote, Stuka-Flieger, Akte nach pornographischen Vorlagen, eine Dame in Robe, Brigitte Bardot mit Mutter, Kühe, Hirsche, "Horst mit Hund", eine "Klorolle" als Anspielung auf Duchamp, Sargträger oder die "Lernschwestern", die Opfer eines Massenmörders in den Vereinigten Staaten wurden. Nicht zuletzt entsteht 1966 ein wunderschönes Hauptwerk wie der "Akt, der die Treppe herabsteigt", das Bildnis seiner ersten Frau Ema, der Tochter des furchtbaren Chefarztes, für das Richter zum ersten Mal die Farbfotografie einsetzt.
Man kann in Richters Sinn-Boykott eine tiefe Skepsis, ja Verzweiflung angesichts einer undurchdringlichen und überwältigenden Wirklichkeit sehen. Nichts ist seiner Kunst fremder als Aufklärung und Moralismus. Die Bilder verweigern jede Evidenz und verwertbare Mitteilung. Nichts ist leichter, als eine Probe aufs Exempel zu machen: Man stelle sich eine Galerie der grauen Bilder Richters vor. Ohne Kommentar wäre nicht herauszufinden, wo die Täter und wo die Opfer, wo die Bösen und wo die Guten stecken. Zu dieser Bewertung bedürfte es des Kommentars.
Die Bilder erzählen auch nichts von den Geschicken seiner Figuren. Das Bild "Tante Marianne" gibt nicht Tante Mariannes Schicksal preis. Als zeit- und sittengeschichtliches Begleitbuch ist Schreibers bestürzende Reportage nützlich und erhellend. Doch die spezifische Ästhetik der Bilder muß es verfehlen. So verwundert es nicht, daß sich Richter mißverstanden fühlt und von Schreibers Darstellung distanziert.
Jürgen Schreiber: "Ein Maler aus Deutschland. Gerhard Richter." Das Drama einer Familie. Pendo Verlag, München, Zürich 2005. 304 S., Abb., geb., 22,50 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Im Reportagestil habe der Autor sein Gerhard Richter-Porträt verfasst, konstatiert Rezensent Georg Imdahl, und das habe Vor- und Nachteile zugleich. Dank der detektivartig nacherzählten Recherche zu Richters Leben und insbesondere zu den Hintergründen einiger seiner Bilder biete das Buch eine spannende Lektüre. Dieser "Reportagestil" neige auf der anderen Seite aber auch zu Spekulationen und "unnötig reißerischen" Passagen. Unnötig, weil der Autor viele historische Fakten herausgefunden habe, die auch Richter nicht bekannt waren, der aber gleichwohl den "Jargon" von Schreibers Darstellung als aufgebauscht kritisiert hätte. Der Autor habe speziell den Leidensweg von Richters Tante Marianne Schönfelder "minuziös rekonstruiert". Sie wurde 1945 in einem Lager ermordet, nachdem sie seit 1937 als so genannte Schizophrene in die "Mühlen der Euthanasie" geraten sei. Nach einem Foto habe Richter das bekannte Porträt "Tante Marianne" gemalt, auf dem er selbst als Baby zu sehen ist. Auf dem Bild "Familie am Meer" sei ein weiteres Familienmitglied zu sehen, der Naziarzt Heinrich Eufinger, der für bis zu tausend Zwangssterilisationen verantwortlich gewesen sei. Interessant sei nun, so der Rezensent, dass Richter diese historischen Zusammenhänge in seiner Familiengeschichte zur Zeit der Entstehung von "Familie am Meer" nicht gewusst habe. Richters auf dem Buchumschlag zitierter Satz: "Meine Bilder sind klüger als ich" sei deshalb mehr als ein "betörend geheimnisvoller Satz".
© Perlentaucher Medien GmbH
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