Im russischen Krisenjahr 1998 erhält der Literaturwissenschaftler Martin Gross das Angebot, für eine EU-Kooperation Kontakt zu sibirischen Universitäten aufzunehmen und dort als Dozent zu arbeiten. Gross sagt zu und wird Zeuge des Systemwechsels von Jelzin auf Putin. Russland wendet sich von seiner Westorientierung ab. Martin Gross' Reise führt ihn in eine fremde Welt. Doch er begegnet den Menschen mit der gleichen beharrenden Offenheit, die bereits seinen Roman "Das letzte Jahr" zu einer herausragenden Lektüre über die letzten Monate der DDR werden ließ. Langsam und nach manchem Missverständnis gelingt es dem Autor, das Vertrauen seines Umfelds im fiktional-verdichteten Jakuschevsk zu gewinnen. Letztlich aber ist es erst die ungeklärte Liebesbeziehung zu der tatarisch-stämmigen Studentin Dilja, die ihm tiefere Einblicke in die russische Mentalität ermöglicht. Basierend auf Tagebuchaufzeichnungen ist "Ein Winter in Jakuschevsk" ein Buch der Stunde - und viel mehr. Angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine verdeutlicht es Gründe und Natur der tiefen Kluft, die weite Teile der russischen Bevölkerung vom "Westen" trennt. Gesellschaftlich erhellend, von mitfühlender Neugier getragen und stilistisch von berauschender Klarheit vermittelt das Buch Verständnis für die Menschen, die das Scheitern des Sozialismus, den Niedergang der Supermacht und eine misslungene Wirtschaftsreform verarbeiten müssen. So lesen sich manche Passagen des Romans wie ein Menetekel des aktuellen Ukraine-Krieges.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Dass Martin Gross' neues Buch als Roman verkauft wird, findet Rezensent Nils Kahlefendt etwas "kühn". Denn auch wenn der Autor und Literaturwissenschaftler die Aufzeichnungen, die er um 1998 bei einem Sibirien-Aufenthalt im Zeichen der russisch-europäischen Kooperation anfertigte, für das Buch abgewandelt und fiktionalisiert hat, begegnet der Kritiker hier nicht Spannungsbögen und Motiven, sondern einer eher "schmucklosen" Reihung, an die er sich erst gewöhnen muss. Dann jedoch streift er gerne mit Gross durch dessen fiktives, tristes Jakuschevsk mit seiner zwischen "Verzweiflung und Galgenhumor, Offenheit und Argwohn" schwankenden Bevölkerung; mit Hass auf den Kapitalismus und verletztem Nationalstolz, wie Kahlefendt Gross' Analyse wiedergibt. Und trotzdem sei das, besonders auch im Schlussteil des Buchs, in dem der Protagonist/Autor mit seiner Geliebten in den Norden Sibiriens und damit nochmal in ein ganz anderes Russland reist, ein Bericht "aus Friedenszeiten", der den Kritiker heute in einer "Mischung aus Ernüchterung und Beklemmung" zurücklässt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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