Erzählungen verstand Anna Seghers nie als künstlerische Bescheidung. Sie schätzte das Genre, das ihr Möglichkeiten literarischer Vielfalt bot. In der Entstehungszeit dieser neun Erzählungen, 1967 bis 1980, konzentrierte sie sich fast ausschließlich auf die kleineren erzählerischen Formen und auf Stoffe, die außerhalb der DDR lagen. Wie bereits in ihren ersten Schaffensjahren nutzte sie als selbstverständlichen Bewegungsraum die komplexe Welt. Wenn sie sich in anderen Zeiten und Regionen bewegte, suchte sie immer auch ein anderes menschliches und kulturelles Klima auf als das, was ihr das engere Lebensumfeld bot. Die Geschichte "Das wirklich Blau" ist für die Autorin mit Erinnerungen an ihr Exilland Mexiko verbunden, und sie spricht vom Wert des Eigensinns, der Individualität und der künstlerischen Kreativität. Das verbindet sie auch mit anderen Erzählungen des Bandes. Als literarisches Plädoyer für Phantasie und Träume wurde "Die Reisegesellschaft" eine der wichtigsten und wirkungsvollsten Geschichten von Anna Seghers. Die tiefe Trauer der letzten Erzählungen vor ihrem Tod 1983 - "Wiederbegegnung" und der Zyklus "Drei Frauen aus Haiti" - assoziieren schmerzliche Fragen nach dem Sinn und dem Preis der Opfer, die Menschen in den weltweiten Kämpfen für eine gerechtere Welt gebracht haben. Die Entstehungsgeschichte dieser Texte ist ungleichmäßig belegt. Anhand erhaltener Fragmente früherer Fassungen verfolgt der Kommentar den Arbeitsstil der Autorin. Änderungen selbst kleinster Details machen entscheidende Akzentverschiebungen nachvollziehbar, ebenso die Sorgfalt, die Seghers auf den Fabelaufbau und die Konstruktion offener Schlüsse legte. Ihre Wirkungsabsichten, bei denen es zunehmend um eine differenzierte, illusionslose Sicht auf Charaktere und Weltläufte ging, werden unmißverständlich. Der Blick auf die zeitgenössische Rezeption zeigt, daß die Autorin weitgehend vergeblich gegen politisch motivierte Erwartungen und Vorurteile in Ost und West anschrieb. Eva Kaufmann ist emeritierte Professorin für Vergleichende Literaturwissenschaft und lebt in Berlin.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Sabine Brandt sieht in den zwischen 1967 und 1980 entstandenen Erzählungen die in ihren Romanen so SED-treue Anna Seghers als eine Zweifelnde. Die Rezensentin meint, dass die meisten Haltungen, die die Erzählerin in den Geschichten an den Tag legt, kaum im Sinne der Partei sein dürften, sei es, wenn sie in "Der Treffpunkt" einen kommunistischen Widerstandskämpfer an seiner Angst vor den Nazis scheitern lässt und dafür Verständnis zeigt, oder wenn sie in "Die Reisebegegnung" neben E. T. A. Hoffmann und Nicolai Gogol ausgerechnet den von der DDR geächteten Franz Kafka aufeinander treffen lässt. Die neun Erzählungen sind von auffallender Trockenheit und Schlichtheit, stellt die Rezensentin fest, und im Gegensatz zur Herausgeberin, die das in ihrem Nachwort auch bemerkt, hat Brandt auch die Gründe für diese erzählerische Zurückhaltung parat. Seghers Geschichten, die teils in so fernen Ländern wie Haiti, teils in weit zurückliegenden Zeiten spielen, sind Auswege aus der bedrückenden Realität der DDR, und suchen immer dann Schutz in betonter Lakonie, wenn die Wirklichkeit sie trotzdem einholt, so die Rezensentin.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH








