In 'Feuerprobe. Die trügerische Kartographie Europas' setzt Tomasz Ró¿ycki sich grundlegend mit der heutigen europäischen Identität auseinander - in einer faszinierenden, fließenden poetischen, mitunter philosophischen Prosa, die immer wieder an die große walisische Welt-Autorin Jan Morris denken läßt. Zentrale Metapher des Buches ist die Landkarte, die immer schon falsch oder irreführend ist, weil sie die Wirklichkeit in abstrakte Kategorien und willkürliche Grenzen zwängt. Ró¿ycki interessieren die - oft vergessenen - Orte jenseits der etablierten Kategorisierungen und Grenzziehungen. Dort sucht und findet er Erkenntnis; das Reisen ist ihm Lebensbedingung. Dabei geht es nicht nur um geographische Orte - wie seine ehemals deutsche, heute polnische Geburtsstadt Opole oder das einst polnische, heute ukrainische Heimatdorf seiner nach dem Zweiten Weltkrieg nach Schlesien zwangsumgesiedelten Großmutter - sondern auch um die Topoi der europäischen Literatur, Kunst und Musik von der griechischen Antike bis in unsere Zeit. Souverän und scharfsinnig bewegt er sich durch Geschichte und Tradition der europäischen Kultur, deren Themen, Motiven und Codes er gegen den Strich bürstet und mit neuen Bedeutungen auflädt. Ró¿yckis Europa erstreckt sich von von Lissabon und Paris bis Lemberg und Sofia und darüber hinaus. Es ist bevölkert von Figuren wie Homer, Dante und Cervantes, Bruno Schulz, Witkacy und Debora Vogel, Zbigniew Herbert und Czes¿aw Mi¿osz, Gogol und Juri Andruchowytsch, Proust und Rilke, Ariost und Aristoteles, Fernando Pessoa und Franz Kafka. In seinen Lektüren, Reisen und Begegnungen entwirft er Europa als zeitliche und geographische Grenzen übergreifenden kulturellen Raum, als Dialog der Texte und - individuellen und kollektiven - Erfahrungen. Dabei richtet er seinen Blick auch auf Katastrophen und Konflikte, die die Geschichte des Kontinents bis heute prägen, insbesondere in Polen und der Ukraine.
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Einen schwer einzuordnenden und gleichzeitig lesenswerten Text legt Tomasz Różycki laut Rezensent Frédéric Valin hier vor. Das Thema ist Europa, beziehungsweise die Mythen, die sich um Europa gebildet haben, und die Stärke des Buches besteht darin, so der Kritiker, dass Różycki diese in gewisser Weise beim Wort nimmt. Das Europa dieses Buches habe keine feststehenden Grenzen, der Mond gehöre freilich in jedem Fall dazu, weil er seit der Antike einen Sehnsuchtshorizont der Europäer bilde. Trauer um ein Europa, wie es hätte sein können, erkennt der Kritiker, wenn der Autor vor allem Texte versammelt, die auf die ein oder andere Weise den Flammen zum Opfer gefallen sind. Aber auch gescheiterte literarische Texte von Gogol oder Pessoa tauchen bei Różycki auf. Außerdem darf man den Autor nicht für einen zuverlässigen Chronisten halten, wenn er selbst europäische Mythen aufgreift, wie über eine päpstliche Jagd auf Katzen die Pestepidemie verursacht haben soll. Um welches Genre handelt es sich bei den 130 Miniaturen, die der Band versammelt? Um einen Essay der lyrischen Art vielleicht, überlegt Valin, hier stehen Gefühle im Zentrum, nicht Politik oder klare Thesen. In Zeiten, in denen der Kontinent in Gefahr ist, bekommt dieses Buch eine herausragende Relevanz, weil es auf eigenwillige Weise zeigt, was mit Europa verloren gehen könnte, schließt der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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