Berlin, November 1990. Eine verteufelte Ordnung löst sich auf: "Irgendwann nach zwei Uhr morgens am fünften November drehte sich die Erde auf die andere Seite und schlief bald weiter." Der fünfundzwanzigjährige gewendete Karl versucht Boden unter die Füße zu bekommen. Was er gelernt hat Bücher binden , will inzwischen niemand mehr haben; wer er ist, will niemand wissen. Dann trifft er auf Janni, eine Studentin mit blauen Haaren. Irgendwann finden sie heraus, dass sie die Kinder eines Vaters sind, der sie in einem wahnwitzigen Experiment in einer Nacht mit zwei Frauen gezeugt hat
Ingo Schram malt "Fitchers Blau" · Von Friedmar Apel
Die romantische Poesie, dekretierte Friedrich Schlegel 1798, soll "Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig, und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen, den Witz poetisieren und die Formen der Kunst mit gediegenem Bildungsstoff jeder Art anfüllen und sättigen und durch die Schwingungen des Humors beseelen." Solche Poetisierung des Lebens aber wollte sich im frühromantischen Roman nicht überzeugend darstellen lassen, selbst da nicht, wo sie - wie in Tiecks "Franz Sternbald" - als "altdeutsche Geschichte" in die Dürerzeit oder gar - wie in Novalis' "Ofterdingen" - in die mittelalterliche Welt Wolfram von Eschenbachs verlegt wurde. So wurde das Fragment zum Programm, und die Vorstellung vom rechten Leben, die im Medium der Kunst entworfen werden sollte, verflüchtigte sich im symbolischen Blau der Sehnsucht.
Zweihundert Jahre später hat Ingo Schramm in entschlossener Unzeitgemäßheit und in einem in der Gegenwartsliteratur beispiellosen erzählerischen Gewaltakt das Kunststück noch einmal versucht. Seine Geschichte aber spielt nicht primär, wie die Erfolgsromane der Jahrhundertenden der Moderne, in einer fernen Vergangenheit, sondern im wiedervereinigten Berlin von 1990. Die erzählte Geschichte ist im Kern allerdings die denkbar älteste: Zwei - freilich ziemlich sonderbare - Königskinder begegnen einander, können aber zusammen nicht kommen. Karl ist arbeitsloser Buchbinder, den es in den Wendewirren orientierungslos durch die Straßen, die Kneipen und das Leben treibt, bis er die Soziologiestudentin Janni trifft, die nicht weniger will als eine kopernikanische Wende der Gesellschaftstheorie, die radikale Veränderung der Gesellschaft durch ihre unmetaphysische Erkenntnis. Zunächst aber gilt es zu vollziehen, was Verliebtheit und Bedürfnis nahelegen. Das aber wird verhindert durch die Regelblutung, bevor die beiden erfahren, daß sie Kinder ähnlichen Blutes, genauer: Produkte des gleichen Vaters sind. So bleibt nur die Gemeinsamkeit im Häuserkampf, die in der Schlacht in der Mainzer Straße vom November 1990 kulminiert und endet.
Der Erzähler dieser Geschichte ist ein Monstrum, allwissend und informationssüchtig wie "GOtt", die Partei oder die Stasi. Er kennt sich in Berlin so gut aus wie in Bordeaux und Baku, beherrscht alle Zungen Babylons und ist von Leibnizscher Gelehrsamkeit; von der Genesis zum genetischen Code, von der griechischen Mythologie zur Chaostheorie, von Augustinus bis Luhmann ist nichts vor seinen erhabenen Reflexionen und Modellrechnungen sicher. Er schaut seinen Personen in den Kopf und in die Seele und unter die Bettdecke. Seine Figuren liebt dieser progressive Diktator, der im Sinne Schlegels nur das Gesetz anerkennt, daß die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide, mit der Herablassung eines weltklugen Melancholikers.
Mit Novalis wird diesem romantischen Spiel und Systemtheoretiker alles zum metaphorischen Kontinuum, in dem der Märchenerzähler als Schöpfer von Welten erscheint. Im von Analogiezauber und Verweisungswahn vorangetriebenen erzählerischen System erhält daher alles einen mehrfachen Sinn. Die romantische Farbsymbolik wird zum Exzeß ausgereizt, der Himmel, der Suff, der Blues, die blauen Flecken und die blaue Blume; Blut klebt am Schlüssel, am Kopf, an der Marlboro-Schachtel: Alles in dieser Welt hängt symbolisch mit allem irgendwie zusammen.
Und Karl und Janni sind natürlich nicht nur zwei junge Berliner. Sie sind Märchenfiguren, die Kinder eines Blaubart, dummer August oder Johanna von Orléans, Tristan oder Isolde, vor allem aber geschichtliche Allegorien. Ihr Vater Josef (sic!) hat sie, mit zwei verschiedenen Frauen, im Rahmen eines Menschenexperiments erzeugt, das die Möglichkeit des Siegs über Zufall, Krankheit, menschliche Unzulänglichkeit und Willensfreiheit beweisen sollte. Der totalitären Bemächtigung entronnen sind sie wohl, freilich - wie das Mädchens in "Fitchers Vogel" - beschädigt, aber nicht nur an der Ferse. Seit Joseph Roth und Thomas Mann sind Außenseiterfiguren nicht wieder dermaßen ambitioniert als Verkörperungen nationaler Traditionen angelegt worden. Aber dabei beläßt es der Erzähler bei weitem noch nicht, die Perspektive erweitert sich zunehmend ins Urgeschichtliche und Universale. Wie Novalis begreift dieser schwadronierende Erzähler die Sprache des Kosmos, der Natur- wie der Menschheitsgeschichte als kontinuierlichen Kampfeslärm, und so erscheint am Ende die Schlacht in der Mainzer Straße als nur vorläufig letzte Repräsentation eines urgeschichtlichen und mythologischen Krisengeschehens. "Adrenalin fließt in Strömen. Ein Blitzkrieg und wüstes Scheitern. Aufgeschreckt stürzen die Polizisten. Überdachen einander mit glitzernden Schilden. Hephaistos hat ihnen seine Arbeit nicht gespendet. Kein Achill unter ihnen. Kein Hektor auf der Gegenseite."
In der Krise aber lag schon von jeher die Erkenntnischance, und nur in der Krise wird der große Autor geboren, so klein und schwach er als Subjekt auch sein mag. "Die Wirklichkeit ist ein Spiel aus Bedrängung und Fahrlässigkeit. Ich selbst bin gemacht, wie alle von mir gemacht sind; begreife mich nur durch sie, der ich an ihren Fäden tanze. Ein geschönter Pinocchio, der sich anheischig macht zu sprechen."
Das Schreiben aber erscheint bei Ingo Schramm als ein großes Dennoch, als Gestus erhabenen Trotzes eines sich selbst erschaffenden Subjekts, das für sich nichts Dauerndes begehrt: "Bleibt auch von mir nur die Holzlatte eines veralteten Kaspers? Nicht einmal das, denn ich bin immer vergänglich und schlapp." Auch der Poet ist nur ein Mensch, und so verrät der Erzähler auf listige Weise jovial, wie nahe er dem hölzernen Bengel Karl steht, den er doch dauernd als einen törichten Tropf behandelt, weil er nicht schreiben, folglich nicht denken und handeln kann.
Schreiben aber, wie GOtt, kann dieser Autor. Mit einer ungehörten, ungehörigen eruptiven Gewalt spricht in "Fitchers Blau" der Poet gegen die versteinerten Verhältnisse und die Regression des Lesers an. Freilich möglicherweise auch gegen die Grenzen zwischen dem Flüssigen und dem Überflüssigen, und der Leser mag wohl fragen, wozu dieser weltenbewegende Aufwand dienen soll. Des Poeten Antwort ist hier ausnahmsweise einfach: "Es lohnt kaum, die Zeit der Dinge zu beschreiben, Wahrheit statt Licht und Schatten. Doch wer nur macht, was sich lohnt, der macht ins Leere." Flüssigkeit aber ist die Voraussetzung des Entrinnens. Karl, der komische Tropf und Verlierer, entrinnt am Ende des Romans aus Versehen und Ungeschick, bringt es sogar fertig, die Augen aufzumachen und einen Schritt aus eigener Kraft zu tun. Sein Alter ego aber, der Poet, überbietet Novalis mit Leichtigkeit und zelebriert am Schluß beinahe vergnügt die Literatur als Medium der schönen Kunst des Scheiterns, die allein das Differenzieren als Entrinnen aus einer maschinenhaften Wirklichkeit garantiert. Dieses Buch ist eine Frechheit. Man sollte es lesen.
Ingo Schramm: "Fitchers Blau". Poetischer Roman. Verlag Volk & Welt, Berlin 1996. 447 S., geb., 44,- DM.
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"Fitchers Blau, der große metropole blues, der Berlin-Roman dieser Tage!" (Welt am Sonntag).