22,90 €
inkl. MwSt.
Versandkostenfrei*
Versandfertig in 3-5 Tagen
payback
0 °P sammeln
  • Gebundenes Buch

Reale Orte vom Nordkap bis Afrika als Spiegelbilder der Gefühlswelt: das Porträt eines modernen Odysseus.
Sachte und konsequent erzählt Wolfgang Hermann in diesem knapp gehaltenen Roman die Geschichte eines Menschen, dem Flucht zum Stillstand wird, der von Ort zu Ort hastet und das Unstetsein dabei als Laster empfindet. Behutsam, wie es sein Zustand erfordert - er liegt nach einem Herzanfall im Krankenhaus -, nähert sich der Ich-Erzähler den vergangenen Jahren, die durch ständiges Unterwegssein gekennzeichnet waren. Die Orte, an denen er verweilt, bieten ihm die Möglichkeit, sich in die…mehr

Produktbeschreibung
Reale Orte vom Nordkap bis Afrika als Spiegelbilder der Gefühlswelt: das Porträt eines modernen Odysseus.

Sachte und konsequent erzählt Wolfgang Hermann in diesem knapp gehaltenen Roman die Geschichte eines Menschen, dem Flucht zum Stillstand wird, der von Ort zu Ort hastet und das Unstetsein dabei als Laster empfindet. Behutsam, wie es sein Zustand erfordert - er liegt nach einem Herzanfall im Krankenhaus -, nähert sich der Ich-Erzähler den vergangenen Jahren, die durch ständiges Unterwegssein gekennzeichnet waren. Die Orte, an denen er verweilt, bieten ihm die Möglichkeit, sich in die realen Landschaften und deren Beschreibung zu versenken, um so Abstand zu gewinnen.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.02.2001

Die Zigaretten der Toten
Wolfgang Hermanns Herz zwischen Hospital und endloser Flucht

Die medizinische Not des Herzens läßt sich ungleich schwerer in Literatur verwandeln als die erotisch bedingte. Robert Gernhardt hat dafür Maßstäbe in der Lyrik gesetzt, Wolfgang Hermann versucht es jetzt mit einem schmalen Prosaband. Der weitgereiste Bregenzer Autor legt Wert auf die Feststellung, daß Personen und Handlung frei erfunden seien. Wenn aber der herzkranke Ich-Erzähler auf die Frage des asiatischen Sanitäters nach seinem "Beluf" antwortet, er sei Schriftsteller, und wenn im folgenden von seinen häufigen Reisen die Rede ist, dann dürfen wir daraus schließen, daß es Berührungspunkte zwischen Biographie und Romanstoff gibt. Das beruhigt insofern, als das Erlebnis der Todesnähe und des Ausgeliefertseins an den therapeutischen Apparat hier mit einer Intensität geschildert wird, die persönliche Erfahrung geradezu zwingend nahelegt.

Wolfgang Hermann stellt seiner Geschichte die Passage aus Platons "Phaidon" voran, die in wundersamem Wortfluß die Gewässer des Totenreichs beschreibt, und ein Zitat aus Musils "Vereinigungen". Damit markiert er das Niveau, auf dem er sich bewegen will, was Mut voraussetzt, weil jede Höhe auch eine Fallhöhe ist. Tatsächlich gelingt es dem Erzähler, in der zwischen Cockpit, Labor und Schlachthof changierenden Atmosphäre einer modernen Intensivstation jenen feierlich bedeutungsvollen Ton anzuschlagen, der sich im Angesicht der letzten Dinge als dichterische Alternative zum Galgenhumor anbietet: "Dieses Zimmer treibt ins Nirgendwo. Als schwebe es. Es ist ein Nicht-Ort. Ein Überall-Ort. Es gibt nur ein Krankenzimmer, es ist an allen Orten das gleiche." Und: "Was bleibt dem Kranken anderes als Erinnerung? Tagtraum. Vergessen. Das Ticken der Zeit. Todesgeruch. Mich erinnern, um zu wissen, wer ich bin."

Die Erinnerung, das einzige Fortbewegungsmittel, das dem vormals rastlosen Weltwanderer geblieben ist, trägt ihn zurück in die archaische Geborgenheit der Mutter-Kind-Symbiose, läßt ihn die ungeklärte Beziehung zum Vater, das zwiespältige Verhältnis zum Elternhaus wiedererleben und das Drama um den künstlerisch begabten Bruder, der sich mit einem ungeheuerlichen Kraftakt aus jener Enge befreite. Sein Gedächtnis hat auch die erste Begegnung mit dem Tod gespeichert, die dem Dreijährigen im rätselhaft fremden Blick seiner Großmutter zuteil wurde und das "Verlangen nach Unsterblichsein" in ihm weckte. Mit den Bewohnern des Jenseits steht er seither auf gutem Fuß, weiß um ihre Gewohnheiten: "Es ist nicht wahr, daß die Toten ruhen. Wahr ist, daß sie weder Hunger noch Durst, weder Wärme noch Kälte empfinden. Aber sie kennen das Einsamsein. Deshalb stehen und sitzen sie meistens in Gruppen beieinander. Seltsam, ich habe noch nie einen Kreis von Toten gesehen, in dem nicht wenigstens einer rauchte."

Erstaunliche Einblicke ins Reich der Schatten wechseln ab mit Versuchen, das Geheimnis des Todes und den Augenblick des Abschieds in poetische Bilder zu kleiden: "Manchmal ist der Tod wie Müdesein, wie Flocken vor den Augen. Man läßt das Steuer los und träumt. Man steht an einer Klippe, und die Farben drehen sich am Grund. Oder der Tod ist wie ein Fest. Man springt, man stürzt in einen leeren Himmel, und die Angst schäumt wie junger Wein." Reiseimpressionen kehren zurück, mit Bedeutungen aufgeladen, die ihm die eigene Biographie als endlose Flucht begreiflich machen. Daneben behauptet sich die Gewöhnlichkeit des Krankenhausalltags mit Herzmonitor und Kanülen, Desinfektionsmitteln und "aludampfendem Einheitsessen", mit der schönen jungen Ärztin, der resoluten Schwester und dem zynischen Oberarzt, der Witze über seine Patienten reißt.

Das genuin Banale jedoch, das in diesem so mühsam wie behutsam erforschten Übergangsland zwischen Leben und Sterben wie ein Fremdkörper wirkt, findet Einlaß gerade über jene Erinnerungen, die Rückgrat und Motor der Geschichte bilden: Eine unlebbare Liebesbeziehung, von sexuellen Obsessionen der Frau überschattet und zerstört, und die schmerzhafte Trennung von dem gemeinsamen Sohn haben das Herz des Erzählers unter Dauerstreß gesetzt; eine kurze, leidenschaftliche Affäre im "Berghaus" seiner Kindheit hat ihm den Rest gegeben. Merkwürdig ist, daß dort, wo jemand eine unaufdringlich überzeugende Sprache für existentielle Grenzerfahrungen gefunden hat, schon Frauennamen wie "Elena" und "Natascha" peinlich berühren. Ganz zu schweigen von solchen Sätzen: "Im Wagen sang Nina Simone, Nataschas Hand auf meiner Schulter" oder "Ich hatte für diesen Abend eine Flasche Veuve Cliquot besorgt, und der Champagner perlte in unseren Adern".

Das letzte Kapitel ist unnumeriert und als einziges mit einer Überschrift versehen: Sie lautet "Vereinigung". Im Traum erlebt der Erzähler, wie sein verschollener Bruder zurückkehrt und ihn mit einer Seilbahngondel in die Unendlichkeit entführt. Höher und höher steigen die beiden, sehen Haus und Garten, Stadt und See, Erde und Licht entschwinden, bevor ein "tiefinneres Blau" sie tröstlich umschließt. Diese Reise ist keine Flucht, sondern eine Verwandlung und Heimkehr:

"Wir sind leichter, als wir es je geträumt haben. Und wenn wir den Arm ausstrecken, wissen wir, daß alles um uns, das ganze Universum von unserer Bewegung weiß und daß wir aufgehoben sind in einem großen Schweben. Große Fahrt. Großes Schweben. Gemeinschaft. Das Ende der Angst." Und zugleich das Ende des Romans. Es löst nicht nur das Versprechen des Titels "Fliehende Landschaft" ein, sondern versöhnt auch mit der seltsamen Heterogenität eines Textes, den man als Bettlektüre für Herzpatienten lieber nicht empfehlen möchte.

KRISTINA MAIDT-ZINKE

Wolfgang Hermann: "Fliehende Landschaft". Roman. Haymon Verlag, Innsbruck 2000. 107 S., geb., 27,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

"Tief beeindruckt ist der Rezensent Rüdiger Görner von dieser "Ich-Studie" Wolfgang Herrmanns. Das "konkrete Leiden" des Ich-Erzählers nach einem Herzanfall wird ohne zu "überzeichnen, knapp, glaubwürdig" dargestellt, wobei der Autor "den Leser bis an die Schmerzgrenze führt". Auch entdeckt der Rezensent verborgene Parodien auf den Sprachduktus Rilkes und Hölderlins, die jedoch keineswegs als störend empfunden werden. Das einzige Manko, "eine kompositorische Schwäche dieser Prosa", so der Rezensent, liegt in ihrer "radikalen Selbstbezogenheit". Dies ist auch der Grund, warum Görner den Begriff "Ich-Studie" dem Begriff Roman vorzieht. Zudem "gesunde" das "Ich" etwas zu schnell. Am Ende blickt der Rezensent freudig in die Zukunft, in der er von diesem "Sprachartisten" ein Buch erwartet, das nicht nur um das Ich kreist - um dann endlich einen Roman von Hermann ebenso wohlwollend besprechen zu können.

© Perlentaucher Medien GmbH"