Fünf Jahre nach dem internationalen Erfolg von «In Zeiten des abnehmenden Lichts» entwirft Eugen Ruge eine Geschichte, die in Ton und Tempo kaum unterschiedlicher sein könnte und sich doch als überraschende Fortschreibung erweist. Ein Buch über die Zukunft, in der wir schon heute leben.
Unter dem künstlichen Himmelsblau von HTUA-China ist ein Mann unterwegs, um die neueste Geschäftsidee seiner Firma zu vermarkten: "true barefoot running" heißt das erstaunliche Produkt. Nio Schulz lebt mit Big Data, in einer Welt der Genderkameras, der technischen Selbstoptimierung. Er schwimmt im Strom unaufhörlicher Information: In Australien wird die Klimabombe gezündet, seine Freundin in Minneapolis verhandelt mit ihm über Leihmutterkosten, und @dpa meldet den Tod des einschlägigen Eigenbrötlers und Fortschrittsfeinds Alexander Umnitzer - seines Großvaters.
Nio ist fortschrittlich. Schon neununddreißig, kämpft er darum, auf der Höhe der Zeit zu bleiben. Aber auf dem Weg zum Geschäftstermin verschwindet er vom Radar der Überwachungsbehörden.
Voller überraschender Einfälle und Echos, mit sarkastischem Humor und auf distanzierte Weise mitfühlend, erzählt «Follower» die Geschichte der nächsten Generation und zugleich, in einer aberwitzigen Ausholbewegung, die Vorgeschichte - von allem.
Unter dem künstlichen Himmelsblau von HTUA-China ist ein Mann unterwegs, um die neueste Geschäftsidee seiner Firma zu vermarkten: "true barefoot running" heißt das erstaunliche Produkt. Nio Schulz lebt mit Big Data, in einer Welt der Genderkameras, der technischen Selbstoptimierung. Er schwimmt im Strom unaufhörlicher Information: In Australien wird die Klimabombe gezündet, seine Freundin in Minneapolis verhandelt mit ihm über Leihmutterkosten, und @dpa meldet den Tod des einschlägigen Eigenbrötlers und Fortschrittsfeinds Alexander Umnitzer - seines Großvaters.
Nio ist fortschrittlich. Schon neununddreißig, kämpft er darum, auf der Höhe der Zeit zu bleiben. Aber auf dem Weg zum Geschäftstermin verschwindet er vom Radar der Überwachungsbehörden.
Voller überraschender Einfälle und Echos, mit sarkastischem Humor und auf distanzierte Weise mitfühlend, erzählt «Follower» die Geschichte der nächsten Generation und zugleich, in einer aberwitzigen Ausholbewegung, die Vorgeschichte - von allem.
Follower, Eugen Ruge
Fünf Jahre nach seinem international gefeierten Buch „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ schreibt Eugen Ruge eine Geschichte, die in Ton und Tempo kaum unterschiedlicher sein könnte. Follower heißt der neue Roman, der eine Fortschreibung der Geschichte aus „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ ist.
Follower – der neue Roman des Buchpreisträgers Eugen Ruge
Follower spielt in China im Jahr 2055. Der 39-jährige Nio Schulz lebt in einer Welt des unaufhörlichen Informationsflusses, dem sich kaum einer entziehen kann. In rasantem Tempo wird die Existenz mehrerer Generationen nachverfolgt und so treffen wir die Protagonisten aus „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ Kurt, Alexander, Markus und zu dessen Sohn Nio wieder.
Eugen Ruge, Mitglied des Verbandes Deutscher Schriftsteller, kam am 24.6.1954 in Soswa am Ural als Sohn des Historikers Wolfgang Ruge zur Welt. Ruge studierte Mathematik und arbeitete als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentralinstitut für Physik der Erde. Bereits 1986 nimmt er zusätzlich seine schriftstellerische Tätigkeit auf. In den folgenden Jahren verfasste er schwerpunktmäßig Texte für Theater, Funk und Film, zusätzlich übersetzte er aus dem Russischen, unter anderem Tschechow-Texte und wirkt in einer Lehrtätigkeit in Berlin und Weimar, bevor er 1988 aus der DDR in den Westen geht. 2009 erhält Ruge für sein erstes Prosamanuskript "In Zeiten des abnehmenden Lichts" den renommierten Alfred-Döblin-Preis. 2011 wurde derselbe Roman mit dem Aspekte-Literaturpreis und der größten deutschen Auszeichnung, dem Deutschen Buchpreis, geehrt. In der Begründung der Jury des Deutschen Buchpreises heißt es: „Eugen Ruge spiegelt ostdeutsche Geschichte in einem Familienroman. Es gelingt ihm, die Erfahrungen von vier Generationen über fünfzig Jahre hinweg in einer dramaturgisch raffinierten Komposition zu bändigen. Sein Buch erzählt von der Utopie des Sozialismus, dem Preis, den sie dem Einzelnen abverlangt, und ihrem allmählichen Verlöschen. Zugleich zeichnet sich sein Roman durch große Unterhaltsamkeit und einen starken Sinn für Komik aus.
So viel unnütz tolle Wut! Eugen Ruges Dystopie "Follower" erhebt die geballte Faust gegen die vernetzte Welt und erzählt vom Kampf der Geschlechter als Vernichtungskrieg.
Science-Fiction-Autoren und Dystopisten haben es heute bequem. Es reicht, die Gegenwart mit wenigen Schritten hochzurechnen, um dort zu sein, wo Techno-Intellektuelle und KI-Ingenieure längst sind: in einer posthumanen Welt, deren humanem Bestand über den gewachsenen Möglichkeitssinn schrittweise das Wirklichkeitsgefühl abhandenkommt. Der Mathematiker, Geophysiker und Schriftsteller Eugen Ruge, dessen Romandebüt "In Zeiten des abnehmenden Lichts" im Jahr 2011 auf Anhieb den Deutschen Buchpreis gewann, kann auf diesem Feld zudem seine naturwissenschaftliche Bildung ausspielen. Ob Ruge auch den Ton der ihm ungeliebten technischen Zivilisation treffen würde, war nach seinen bisherigen Büchern, einem historischen Familienepos und einer metaliterarischen Reflexion über das Schreiben, aber ungewiss.
Nio Schulz, der Held von Ruges Zukunftsroman "Follower", trägt die technisch überformte Welt hautnah am und im eigenen Körper: als Silikon-Implantat, mentales Exoskelett und Dauer-Innervation im Hashtag-Strom: "@Luzia teilt mit, dass ihr Kokos-Bounty-Geburtstagskuchen angebrannt sei", liest Schulz auf seinem Newsfeed. Wer ist das globale Wir, auf dessen Neugier die unbekannte Luzia spekuliert? Es sind in jedem Fall nicht mehr Mann und Frau. Die Emanzipation hat sich bei Ruge im Identitätsroulette verloren und eskaliert im Geschlechtervernichtungskampf. Die neutralisierten Körper sind strategische Verfügungsmasse und werden meist zum Nachteil der Männerwelt eingesetzt, die es als Zielscheibe radikalfeministischer Hetze noch gibt. "Post von @femfatal: Geh sterben fetter weißer Hetero." Reproduktion ist im Kern eine Finanzfrage. Nio Schulz quält der Zweifel, ob seine Partnerin die Qualität seines Spermas akzeptieren wird und ob sie oder er das Kind austragen muss. Oder doch die nepalesische Leihmutter? Die Political Correctness ist ein universeller Gedankenscanner, der jeden Gedanken des Protagonisten mit einer Checkliste internalisierter Tabus abgleicht. Das eigentlich Gemeinte sprudelt aus dem Unbewussten, wird aber nur noch in verzerrter Lautgestalt explizit. "Sei doch nicht so negertief", sagt die Vorgesetzte zu Schulz.
Leicht gesagt in der von Ruge grell und genüsslich inszenierten Warenwelt, die Sinn und Sinnlichkeit aufgesogen hat und in Produktform als Identitäts-Applikation anbietet: Kurzburka mit Pilotenstiefeln. Dummies mit combat traces. Pantys mit gender confession brand. Die globale Produktpalette zielt auf den Verkauf kollektiver Identitäten. An jeder Ecke stellt sich Schulz das Gebot: "Checking identity." Frauen, die es nicht mit der Militanz halten, laufen als pinkfarbene Mickymäuse durch diesen Markenkosmos oder, zeitlich versetzt, als beides: erst Escort-Girl, dann militant fem. Islamic gilt als chic. Wie der Islam die weibliche Erotik in Schleier hüllt, schweißt sie der Westen ins Markenprodukt, dem man sich ebenso bedingungslos unterwirft: "Follower" eben, jeder auf seine Art.
Die next economy hat auch die Zeit kolonisiert. China ist nach Unternehmensanteilen in vier Zeitzonen aufgeteilt. Russland wird gerade an der Börse verscherbelt. Nio Schulz arbeitet bei E.on/Deutschland in befristeter Anstellung. Was seine Leistungsbereitschaft fördert und ihn zu penibler Selbstbefragung anhält, die mit immer neuen Erfolgen besänftigt werden muss.
In dieser Welt wacht Nio Schulz eines morgens in einem seltsamen Identitätsschwindel auf. Die globale Markenwelt bietet ihm keine Anhaltspunkte. Sein Aufenthaltsort nennt sich Wú Chéng, liegt irgendwo in China und heißt zu Deutsch: keine Stadt. Auch sein Geruchssinn bringt Schulz auf der Suche nach dem verlorenen Weltgefühl nicht weiter. Es riecht verkaufsfördernd nach gemähtem Gras.
Echt scheint nur die fette weiße Fliege, die unablässig gegen den Bildschirm im Hotelzimmer prallt. Es ist die millionenfach geklonte Zeitfliege der Universe-Uhr, die das globale Niemandsland synchronisiert. Im Alltag wird Schulz durch sein Kommunikationsverhalten stabilisiert, amtlich erfasst nach aktiven und passiven Kontakten, Clusterzahl, Agglomeration, und gebündelt zu einem Psychotyp. Schulz ist Fischmaul: viele passive, wenige aktive Kontakte. Verdächtig. Beruflich bewirbt Schulz Lauf-Fußbänder, die er dem chinesischen Markt so schmackhaft machen will wie seinen letzten Verkaufshit: das essbare Zimmermädchenkostüm.
Schulz ist gut im Geschäft, wird seit einem gescheiterten Projekt aber von Selbstzweifeln gequält. Seine Chefin sieht ihn aufmerksamer an und hat neuerdings ein Verhältnis mit Schulz' Kollegen Jeff, einem schleimigen Crossgender-Strategen, der ab und zu die Damentoilette benutzt, weil ihm "mösig zumute ist". Schulz, der solche Kalamitäten mit Antidepressiva und Männlichkeitspillen besteht, peinigt die Gier nach unverstellter Erfahrung. "Am Frühstückstisch wird er von einer Welle des Hasses durchströmt, von dem heißen Wunsch, der pinkfarbenen Mickymaus etwas Schlimmes anzutun, guten Appetit."
Von seinem Newsfeed wird Schulz parallel über die weltpolitische Lage informiert, skizzenhaft dargestellt am UNKlimaprogramm, das in Australien H-Bomben gegen den Klimawandel zündet, gegen den Protest von Aktivisten, mit denen sich ein globaler Bierbrauer solidarisiert: "Zäpfle-Bier eröffnet ein Spenden-Konto für die Ptjantjatjara Arrernte Luritja und weitere Stämme des vorkolonialen australischen Kontinents." Lokalkolorit kommt aus der kulinarischen Konserve: Der Wienerwald von Wú Chéng bietet Tofu-Eisbein und Thüringer Klöße an, serviert von einer Chinesin in Schottenrock.
So gibt es auf jeder Seite gleich mehrere Exotika zu bestaunen: nepalesische Spenderprofilkinder, die Steve-Jobs-Oberschule oder "neoplasmatisch veredelte Ärsche". Ruge schreibt mit geballter Faust, beißend, viril, stellenweise überdeutlich, doch präzise und kenntnisreich, fast immer auf der Höhe des Gegenstands. Bewundernswert, wie mühelos ihm der Genrewechsel gelingt und wie ökonomisch er seine Erzählung auf wenige Orte konzentriert: Hotelzimmer, Bad, Frühstücksraum, Shopping-Mall. Die Welt schwappt über Ticker und Streams ins hyperventilierte Bewusstsein. So steigert Ruge die Irrealität und fasst sie zugleich konkret.
Wäre sein Zorn nur nicht so groß. An einer Stelle schreibt Ruge von brachialem Schneefall. Hat man Schnee je so hart fallen sehen? Man kann es als Symptom deuten. Nach gut zweihundert Seiten macht Ruge nämlich den gewaltsamen Versuch, den Roman mit seinem Vorgänger zu verschalten, das DDR-Familienepos gleichsam in die nächste Generation fortzuerzählen. Der Tod des Großvaters, zu dem Whatsapp Nio Schulz herzlich gratuliert, motiviert den Erzähler zu einem weit ins Kosmologische ausholenden Exkurs, mit dem spärlichen Erkenntnisgewinn, das Leben in seiner Unwahrscheinlichkeit und Kontingenz begreifbar werden zu lassen - als hätte das erst deutlich werden müssen. Der historische Notausgang aus der vernagelten Welt ist in der Idee überzeugend, gerät bei Ruge aber zur wutentbrannten Elegie. Von seinem Großvater, einem enttäuschten Kommunisten, wie Ruge 1954 geboren, leiht Nio Schulz sich die antitotalitäre Leidenschaft, um die ewig flüchtige vernetzte Welt zu stellen und mit eiserner Faust zu zerschmettern.
Nach einem Theorem Jean Baudrillards ist der Tod der einzig uneintauschbare Wert und daher auch die einzige Exit-Option aus den medialen Simulakren. Schulz hat sich das Tötungsrecht an einem straffälligen Hilfsarbeiter gesichert, die Welthandelsorganisation hat die kommerzielle Verwertung des Todes erlaubt. Der Kopf des Delinquenten liegt auf dem Holzklotz, erdige Gerüche verströmend. Und es fragt sich, ob Schulz das eigene Leben zum Tausch anbieten wird, wie Ruge es weiter vorne mit einem Songzitat angedeutet hat: "Ich fühle, aber ich weiß nicht, was. Ich will lieber tot sein als DAS."
Ruge scheut am Ende diese radikale Konsequenz und flüchtet in trunkene Nostalgie. Sein Held erledigt die liquide Moderne mit einem Fausthieb und fährt auf einem Elektroroller hinaus in die atmende, strömende Welt. Mit einem Mal ist alles wieder da: das vom Fahrtwind zerzauste Haar, die singenden Reifen auf dem Asphalt. Eine Krähe grüßt den Flüchtigen, der versöhnt "das Zing-Zing von Großvaters Sense" hört.
THOMAS THIEL
Eugen Ruge: "Follower". Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2016. 320 S., geb., 22,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Rezensent Hans-Dieter Fronz meint in Eugen Ruge schon einen der scharfsichtigsten Analytiker der Gegenwart zu erkennen. Die Zukunftsvision, die er in seinem Roman entwirft, haut den Rezensenten schon durch die schiere zeitliche Spanne um: 14 Milliarden Jahre, vom Urknall bis ins Jahr 2055 vermisst der Autor anhand der Entwicklungsgeschichte seines Helden vom braven Datenbrillenträger bis zum infolge seelischen Amoklaufs aus der digitalen Totalvernetzung in die analoge Vorzeit ausscherenden Genossen. Düster und köstlich satirisch zugleich findet Fronz das und sprachlich geschmeidig und präzise gemacht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Ein großartiger und in vieler Hinsicht außergewöhnlicher Roman ... Nach «Follower» darf Eugen Ruge als einer der scharfsichtigsten Analytiker der Gegenwart gelten. taz