Gabriel García Márquez erzählt vom Leben seiner Eltern, denen er in "Die Liebe in den Zeiten der Cholera" ein Denkmal setzte, von der eigenen Kindheit und Jugend. Er erzählt von großer Armut und wilden Liebesabenteuern, von Freunden fürs Leben und der Leidenschaft für die Literatur.
Aus dem Zylinder: Die Memoiren des Gabriel García Márquez
Das Zauberwort heißt "Verwandlung". Wie nur wenige Schriftsteller kann der kolumbianische Nobelpreisträger Gabriel García Márquez Verwandlung nicht nur spürbar, sondern er kann sie auch plausibel machen mit seiner barocken Phantasie, die noch das Unwahrscheinlichste glaubhaft, das Schwierige einfach und das Einfache tiefsinnig macht. Wer ihn liest, spürt eine fast zärtliche Wärme, die von den Seiten aufzusteigen scheint. So verwandelt die Lektüre seiner Romane und Erzählungen auch den Leser: Er wird die einmal vertraut gewordenen Figuren nie mehr vergessen. Einfallslosen Verehrern kann man "Die Liebe in den Zeiten der Cholera" allerdings noch so oft schenken - ein Florentino Ariza wird doch nicht aus ihnen.
Gerade bei uns, wo García Márquez aufgrund nationaler Defizite in der Phantasieabteilung besonders geliebt wird, mag es erstaunen, daß dieser schöpferische Autor den Mut zum Ausfabulieren seiner stupenden Vorstellungkraft aus einem deutschen Buch nahm: Kafkas "Verwandlung". Gregor Samsas Erwachen als Käfer habe seinem "Leben einen neuen Weg gewiesen, schon mit der ersten Zeile, die heute einer der berühmtesten Sätze der Weltliteratur ist". Damals war "Gabito" kaum zwanzig Jahre alt und hatte sich, dem Wunsch der Eltern entsprechend, als Jurastudent in Bogotá eingeschrieben - im Bewußtsein, nur eines werden zu wollen: Schriftsteller.
Inzwischen sind die Romananfänge von García Márquez selbst in die Literaturgeschichte eingegangen, und für seine Bücher gilt, was er über die Kunst Kafkas sagt: "Das Geschehen mußte nicht belegt werden: Der Autor mußte nur etwas schreiben, damit es wahr wurde, keine anderen Beweise waren erforderlich als die Kraft seines Talents und die Autorität seiner Stimme."
Der Name Gabriel García Márquez verheißt also Poesie und Phantastik, lyrisch beschreibende, ungerührte Sprache und wiegenden Satzrhythmus. In seinen Büchern fügen sich Episoden zu einem prunkvollen Bild. Und wer weiß, daß "Liebe in den Zeiten der Cholera" von der Geschichte seiner Eltern inspiriert wurde, macht sich fast zwangsläufig auch vom Leben des Autors eine karibische Paradiesvogelvorstellung.
Jetzt ist der erste Band seiner auf drei Teile angelegten Autobiographie mit einer Auflage von 150 000 Exemplaren auf deutsch erschienen: "Leben, um davon zu erzählen", der in dieser Zeitung vorabgedruckt wird. Schon bei seinem Erscheinen in der spanischsprachigen Welt vor zwei Monaten machte das Buch Furore: Startauflage eine Million, geplünderte Lieferwagen, Warteschlangen vor den Buchläden. Das mag auch mit der besonderen Liebe der Lateinamerikaner zur Literatur zu tun haben, wie García Márquez sie schildert: "Man kann sich kaum vorstellen, wie sehr die Poesie damals das Leben bestimmte. Sie war eine heftige Leidenschaft, eine andere Art zu leben, ein Kugelblitz, der überall auftauchen konnte. Die Welt gehörte den Dichtern. Ihre neuen Bücher waren für meine Generation wichtiger als die deprimierenden politischen Neuigkeiten."
Gerade in seiner Politikferne erweist sich der jugendliche Gabo als Kind seiner Zeit - eine für ihn bestürzende Erkenntnis. Versessen aufs Schreiben, ist er lange blind für das Tagesgeschehen: "Auf literarischen Wolken schwebend hatte ich in meiner politischen Ahnungslosigkeit offenkundige Tatsachen nicht wahrgenommen." Zunächst beiläufig, dann immer dringlicher schildert er die politische Entwicklung Kolumbiens, angefangen beim Massaker an den Bananenarbeitern im Jahr 1928, das in seinem Werk eine große Rolle spielt. Doch seine eigentliche politische Initiation erfährt er durch die Erlebnisse vom 9. April 1948, als der liberale Präsidentschaftskandidat Jorge Eliécer Gaitán in Bogotá auf offener Straße ermordet wird. So sind diese Memoiren auch ein eminent politisches Buch.
So faszinierend und lehrreich diese Exkurse sind: Das Buch, sein erstes literarisches Werk seit dem grandiosen Roman "Von der Liebe und anderen Dämonen" (1994), ist vor allem eine Liebeserklärung an die Kunst des mündlichen Erzählens. Schon als Kind scheinen den Erwachsenen seine Geschichten so hemmungslos übertrieben, daß ihn nur der Satz "Die Lügen der Kinder sind ein Zeichen von einem großen Talent" vor Strafe bewahrt. Doch eigentlich sind die Jahre im Haus seiner Großeltern in Aracataca, wo er mit diversen Tanten und zahlreichen Geistern aufwächst, märchenhaft bekannt aus "Hundert Jahre Einsamkeit". Die Erinnerungen daran, die den ersten Teil des Buchs füllen, sind vor allem wegen der Anekdoten eine heitere Lese-Etappe, wenn etwa der Großvater sich im Dunkeln eine Flasche Tinte über den Kopf gießt, die er für sein Duftwasser hält. Immer wieder erweist García Márquez dieser Zeit seinen Respekt: "Ich kann mir kein günstigeres familiäres Klima für meine Begabung vorstellen als dieses verrückte Haus."
Im Rückblick scheint es ihm, als sei er sich seines Talents schon immer bewußt gewesen. Sprüche, die er als Junge klopft, interpretiert der Fünfundsiebzigjährige als erste literarische Erfolge. Glaubwürdiger ist da der Einfluß des Internats, ein entlegenes Gymnasium in der Provinz Cundinamarca, wo den Jungen vor dem Einschlafen Romane vorgelesen werden, auch der "Zauberberg". Die Erwartung eines Kusses zwischen Hans Castorp und Clawdia Chauchat hält die Bengel die ganze Nacht wach - eine hinreißende Vorstellung, selbst wenn es sich nicht so zugetragen haben sollte.
Die Erinnerung des Gabriel García Márquez strotzen nur so vor Hinweisen auf seine Bücher; für Wißbegierige dürften jene Kapitel die spannendsten sein, in denen er von der Arbeit an seinem ersten, nie erschienenen Roman "La casa" oder an "Laubsturm" berichtet. Ausführlich behandelt er auch seine Begegnung mit dem einzigen Überlebenden eines Seeunglücks, aus der zunächst eine Serie von Reportagen hervorging, die später unter dem Titel "Bericht eines Schiffbrüchigen" als Buch erschienen. Vor allem aber lädt das Buch dazu ein, sich an "Hundert Jahre Einsamkeit" und "Die Liebe in den Zeiten der Cholera" zu erinnern und ihre Ursprünge zu entdecken - wenngleich der Band vor ihrer eigentlichen Entstehung aufhört: Er schließt im Alter von achtundzwanzig Jahren, als Gabo als Korrespondent der Zeitung "El Espectador" nach Europa aufbricht, und deutet auch die Liebe zu Mercedes Barcha, seiner späteren Frau, nur an.
Immer wieder bekräftigt García Márquez seinen unerschütterlichen Glauben daran, daß nur das Leben zählt, an das man sich erinnert - und das man in Erzählungen lebendig hält. Diese Überzeugung, die sein Schreiben bestimmt, gewinnt er als Zweiundzwanzigjähriger auf einer Reise mit seiner Mutter zurück nach Aracataca, um das Haus der Großeltern zu verkaufen: "Unter den vielen Reisen meines Lebens war diese eine die entscheidende, da ich dabei am eigenen Leib erfuhr, daß das Buch, das ich zu schreiben versuchte, nur eine rhetorische Erfindung war, die sich auf keine dichterische Wahrheit stützen konnte. Als Modell für eine Saga, wie ich sie erträumte, konnte nur meine eigene Familie dienen, in der es keine Helden, nicht einmal Opfer gab, sondern in der alle immer nur nutzlose Zeugen und Leidtragende der Ereignisse waren."
Mit dieser Reise setzen die Erinnerungen ein, und um immer wieder zu ihr zurückzukehren, unterbricht er die ansonsten ziemlich chronologische Schilderung seiner Jugend. Doch kann auch dieser Kniff nicht verhindern, daß sich aus dem Knäuel einige Enden lösen und ihm davonlaufen. Zumal im letzten Drittel spürt man, daß García Márquez den Band noch kurz vor seinem Erscheinen stark gekürzt hat, wenn er etwa auf zwei aufeinanderfolgenden Seiten "einen Kloß im Hals" hat oder andere wenig originelle Metaphern benutzt.
Genau wie seine Romane leben auch diese Memoiren vor allem von vielen Namen, die dem unruhigen jungen Literaten auf seinem Weg durch das Land und verschiedene Redaktionen begegnen. Nur wenige aber bleiben hängen. Um so präsenter ist die Familie, die sich allerdings so regelmäßig vermehrt, daß selbst Gabo seine zehn Geschwister kaum noch auseinanderhalten kann.
Mit all diesen Erinnerungen erfüllt sich Gabriel García Márquez zweifellos den Wunsch, zu den Quellen seines Schreibens zurückzukehren - von Macondo nach Aracataca. Wer dem großen Zauberer jedoch folgt auf seinem Weg zurück durch die Zeit, erlebt dessen ernüchternde Verwandlung in einen gewöhnlichen, wenngleich äußerst symphatischen Mann mit einem weißen Kaninchen in der Hand. Und dieses Tierchen kennen wir jetzt allzu gut.
Gabriel García Márquez: "Leben, um davon zu erzählen". Aus dem Spanischen übersetzt von Dagmar Ploetz. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2002. 602 S., geb., 24,90 [Euro].
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