Wie Charcot, Breuer und Freud die Hysterie definierten, wissen wir. Wie aber um 1900 der Alltag von Patientinnen in einer psychiatrischen Anstalt aussah, wie sie selber sich und ihre Krankheit wahrgenommen haben und wie Krankheitskonzepte zwischen Anstaltspsychiatern, Patientinnen und Personen ihres sozialen Umfelds ausgehandelt wurden, ist wenig bekannt. Karen Nolte zeigt, wie Diskurse über Hysterie in der Praxis wirksam wurden, und gibt Einblicke in die Krankheitswahrnehmung unterschiedlicher Frauen wie Dienstmädchen, Telefonistinnen, Hausfrauen und Lehrerinnen.
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Abstract Karen Nolte 'Gelebte Hysterie. Erfahrung, Eigensinn und psychiatrische Diskurse im Anstaltsalltag um 1900', Frankfurt/Main, New York: Campus 2003 (Reihe: Geschichte und Geschlechter, Band 42).Die interdisziplinäre Forschung zur Hysteriegeschichte hat sich bisher auf den Prozess der Herstellung von Geschlecht im (vornehmlich medizinischen) Wissenschafts- bzw. Elitendiskurs konzentriert. Die Perspektive der Patientinnen ist nur auf der Grundlage von publizierten Krankengeschichten untersucht worden. Demgegenüber hat Karen Nolte diese 'älteste Frauenkrankheit' in der psychiatrischen Praxis um 1900 anhand der Krankenakten der Landesheilanstalt Marburg untersucht. Anders als in bisherigen Studien zur Geschichte der Hysterie ging es der Autorin nicht nur darum, intellektuelle und medizinische Diskurse über Hysterie zu analysieren, sondern herauszuarbeiten, wie diese Diskurse in der Praxis einer psychiatrischen Anstalt um 1900 genutzt wurden. Die Akteure und Akteurinnen dieser empirischen Studie sind nicht Wissenschaftler, sondern Anstaltspsychiater, Patientinnen und Personen ihres sozialen Umfelds. Karen Nolte arbeitet heraus, wie Krankheitskonzepte im Anstaltsalltag zwischen Psychiater und Patientinnen ausgehandelt wurden. Die Studie gibt darüber hinaus Einblick in subjektive Krankheitswahrnehmungen von Frauen unterschiedlicher sozialer Herkunft, nämlich Dienstmädchen, Telefonistinnen, Hausfrauen und Lehrerinnen. Auch beleuchtet die Studie die 'Innenperspektive', d.h. die von Patientinnen und medizinischem Personal, auf die Verhältnisse einer psychiatrischen Anstalt um 1900 zu untersuchen. Insofern ist die Studie Noltes auch als Beitrag zur Geschichte der modernen Anstaltspsychiatrie zu verstehen. Karen Nolte bricht mit ihrer neuen Perspektive auf die Geschichte der Hysterie die in der Fachdiskussion vorherrschende Polarisierung von 'Erfahrung' und 'Diskurs' auf. Die Studie leistet somit einen Beitrag zur Rezeptionsgeschichte bürgerlicher Ideen und zeigt, dass die zuweilen homogenisierenden diskursanalytischen Erkenntnisse nur einen Teil von (re-)konstruierbaren Wirklichkeiten darstellen.
(Verlagsrezension)
(Verlagsrezension)
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Martin Stingelin wartet mit einem großen Kompliment auf. Karen Nolte, die hier ihre Dissertation vorlegt, besitze den gleichen "gout de l'archive" wie ihre französische Kollegin Arlette Farge, die seit Jahrzehnten die Pariser Archive auf den Spuren der Geschichte der einfachen Leute durchforscht. Auch Nolte hat also "Lust, Geschmack am Archiv" gefunden, in ihrem Fall sind es die Akten der psychiatrischen Landesheilanstalt Marburg gewesen, die sie aufgearbeitet hat. Methodisch innovativ sei ihre Studie nicht, merkt Stingelin an, dafür besäße ihre dichte Beschreibung des Anstaltsalltags der als Hysterikerinnen internierten Frauen Intensität und Lebendigkeit und vollziehe damit tatsächlich einen Perspektivenwechsel in der historischen Hysterieforschung. Aus dem Aktenstudium ergäbe sich ein Spannungsverhältnis, berichtet der Rezensent, zwischen dem reformerischen Bemühen der Psychiater und den in die Enge getriebenen Patientinnen. Gar nicht so selten hätten sich diese den psychiatrischen Hysterie-Diskurs zu eigen gemacht, um auf diesem Wege über die erfahrene geschlechtsspezifische Gewalt berichten zu können. Nur manchmal weiche Nolte spekulativ vom Quellenstudium ab; kleine Schönheitsfehler, die der Rezensent gelten lässt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Minna ist so schwierig
"Ein Perspektivenwechsel in der historischen Hysterieforschung." (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.12.2003)
"Ein Perspektivenwechsel in der historischen Hysterieforschung." (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.12.2003)







