Diese Geschichte der deutschsprachigen Literatur von 1900 bis 1918 bildet den zweiten und abschließenden Teil von Peter Sprengels großer Literaturgeschichte der Wilhelminischen Epoche. Die Darstellung legt besonderen Wert auf die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der deutschen, österreichischen und Schweizer Situation. Schwerpunkte sind die Autorenporträts der bedeutendsten Schriftsteller von Rilke bis Thomas Mann. Eine Besonderheit bildet das Kapitel über Literatur und Weltkrieg, das sich mit der Frage der Darstellbarkeit eines modernen Kriegs in der Literatur auseinandersetzt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.02.2005Parallelaktionen im Quadrat
Wegweisend: Peter Sprengels Literaturgeschichte von 1900 bis 1918
Ein paar große Namen, deren Werke zum Wichtigsten gehören, was deutschsprachige Autoren im 20. Jahrhundert zur Weltliteratur beigesteuert haben - Thomas Mann und Franz Kafka, Rilke und Trakl, Hofmannsthal und Schnitzler etwa -, bezeichnen zugleich die Schwierigkeit, eine deutsche Literaturgeschichte zu schreiben, welche die Zeitspanne umfaßt, die von der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert bis zum Ende des "Großen Krieges" reicht, wie der Erste Weltkrieg von den Zeitgenossen genannt wurde. Allen definitorischen Schwierigkeiten zum Trotz bildet die Epoche eben doch eine Einheit, die sowohl in ideologischen "Parallelaktionen" machtpolitisch übersättigter Nationen als auch im selbstverliebten Spiel mit den Empfindungen der eigenen zärtlich verwöhnten Psyche begründet ist.
Symbolismus, Expressionismus, Psychoanalyse: All solche - meist aus anderen Kontexten entliehenen - Begriffe gelten mit Bezug auf die Literatur immer nur für die Produktion weniger Jahre, für einzelne Facetten schriftstellerischen Schaffens, für kurze Abschnitte im Leben eines Autors und haben als literaturgeschichtliche Termini nur gemeinsam, daß sie höchst unbefriedigend sind. Schon bei seiner 1998 erschienenen "Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1870-1900. Von der Reichsgründung bis zur Jahrhundertwende", dem ersten Teil seines nun vollendeten zweibändigen Projekts, hatte sich daher der an der Freien Universität Berlin lehrende Peter Sprengel entschieden, eine auf den ersten Blick vielleicht ein wenig altmodisch schematisch erscheinende Gliederung nach den traditionellen Großgattungen zu wählen, die er noch dazu - Altphilologe, der er auch ist - ganz gegen die heute üblichen Usancen in der Reihenfolge Erzählprosa, Dramatik und Lyrik bietet, in einer Folge also, die den Vorschriften ältester antiker Literaturtheorien entspricht. Der nichtfiktionalen Prosa, einer in der hier behandelten Periode besonders wichtigen Produktion, wird zu Recht gleichfalls der Rang einer Gattung eingeräumt.
Dadurch, daß bei dieser Anordnung des Stoffes das Schaffen vieler Dichter, deren Werk sich auf mehrere Gattungen erstreckt, an mehr als einer Stelle zur Sprache kommt, stört überhaupt nicht, da Sprengel alles Biographische ohnehin knapp hält und immer nur in Bezug auf einzelne Werke erörtert. Die Erfahrung von Mitforschern, Lehrern und Studenten dürfte ihm längst recht gegeben haben, wie klug die ganz pragmatische Ordnung gewählt ist, deren zweite Gliederungsebene von dem regionalen Prinzip bestimmt ist, daß innerhalb der Gattungen zunächst von der Produktion in der Schweiz gehandelt wird, dann von derjenigen in Österreich und zuletzt von derjenigen, die im Deutschen Reich erschienen war. Daß über dieser Struktur des Bandes epochentypische Besonderheiten, welche die Texte geprägt haben, nicht zu kurz kommen, dafür sorgen jeweils die vorangestellten Einführungen, die von Formen, Stilen, Einflüssen und sonstigen komparatistischen Aspekten handeln.
Hier werden auch Unschärfen erörtert, die das gewählte Einteilungsprinzip zwar erschweren, jedoch nicht in Frage stellen, wie zum Beispiel das zunehmende Ausfransen klarer Grenzen der einzelnen Genres. Häufig faßt Sprengel in einem Kapitel das Schaffen von zwei, vereinzelt auch von mehreren Autoren zusammen: Albert Ehrenstein und Robert Müller, Rilke und Musil bei den österreichischen Prosaisten, mit Stehr und den Brüdern Hauptmann, Jakob Wassermann und Georg Hermann bei den deutschen kommen so zusammen, und nicht immer beziehen sich diese Zusammenstellungen auf Autoren, die bei aller Differenz des Werks so viel miteinander verbunden hat wie Hofmannsthal und Schnitzler. Natürlich wechseln die Zusammenstellungen von Gattung zu Gattung.
Das knapp hundertfünfzigseitige "Porträt einer Epoche", das den Band eröffnet, läßt besonders die charakteristischen Tendenzen der Zeit hervortreten, etwa die Krise der Autorität, die Erfahrung von Beschleunigung und Nervosität, die Neigung zu alternativen Lebensformen, die Kollektivphantasien Tanz, Opfer und Untergang als Voraussetzungen der Kunst; schildert die geistigen Grundlagen der Epoche in den neuen philosophischen und wissenschaftlichen Schulen, aber auch in der Esoterik; zeichnet in ihren Grundlinien Stile und Richtungen vom Jugendstil zum Expressionismus, von der Neuromantik bis zum Dadaismus nach und skizziert schließlich Institutionen und Prozesse des literarischen Lebens, so Gruppenbildungen, Verlage, Zeitschriften, Autorenförderung und - vielleicht in allzu wenigen Strichen - die Einrichtungen und Verfahren der Zensur.
Sachliche Information und behutsame Interpretation, also Unterrichtung über Inhalte, Quellen, Entstehung, zeitgeschichtliche Bezüge, Rezeption, werden unaufdringlich und, weil alles klar gedacht ist, in einer klaren Sprache geboten, die nicht den geringsten Anflug eines - sit venia verbo - verquasten Germanistenjargons aufweist. Man möchte das Buch gern auch als ein Zeichen dafür nehmen, daß inzwischen nicht nur Historiker, sondern auch Literaturhistoriker ihre Verachtung für die narrativen Grundlagen ihres Tuns endlich wieder abgelegt haben. Allenthalben ist zu spüren, daß das Buch nicht als Verschnitt bereits vorhandener Werke entstanden ist, sondern umfassender eigener Belesenheit entstammt. Mit Vergnügen spürt man, wie es dem Verfasser gelingt, die solchen Werken oft inhärente Langeweile durch Ironie - allein schon im Arrangement des Stoffes - fernzuhalten, so etwa wenn er unmittelbar im Anschluß an die verspannten Jugend-Sonette Rudolf Borchardts aus dem Jahre 1913 die "etwas herberen" aus Mynonas "Hundert Bonbons" von 1918 folgen läßt.
An Ausführlichkeit wird Sprengels Literaturgeschichte derzeit von keiner anderen übertroffen, und man hat lange schon auf eine Darstellung wie diese gewartet, deren Horizont der Weite des Gegenstandes statt der Enge von Lehrplänen entspricht: Wo etwa ist außerhalb der Spezialliteratur und Lexika denn noch im Kontext ihrer Zeit die Rede von Autoren wie Paul Boldt, dem durch ein einziges Gedicht, die "Jungen Pferde" (1912), zu Ruhm gelangten Sänger zwiespältiger sexueller Erfahrung, wo von dem Schöpfer melancholischer und zynischer Großstadtgedichte Ernst Blass, wo von dem frühvollendeten Lyriker Alfred Wolfenstein?
Ein unerschöpfliches Werk: belehrendes Handbuch, sicherer Wegweiser und ein Lesebuch voller ungeahnter Anregungen für den Neugierigen - ein Buch für Kritiker und Leser, für Literaturwissenschaftler und Studenten.
HANS-ALBRECHT KOCH
Peter Sprengel: "Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900-1918. Von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Ersten Weltkriegs". C.H. Beck Verlag, München 2004, XIII, 924 S., geb., 49,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wegweisend: Peter Sprengels Literaturgeschichte von 1900 bis 1918
Ein paar große Namen, deren Werke zum Wichtigsten gehören, was deutschsprachige Autoren im 20. Jahrhundert zur Weltliteratur beigesteuert haben - Thomas Mann und Franz Kafka, Rilke und Trakl, Hofmannsthal und Schnitzler etwa -, bezeichnen zugleich die Schwierigkeit, eine deutsche Literaturgeschichte zu schreiben, welche die Zeitspanne umfaßt, die von der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert bis zum Ende des "Großen Krieges" reicht, wie der Erste Weltkrieg von den Zeitgenossen genannt wurde. Allen definitorischen Schwierigkeiten zum Trotz bildet die Epoche eben doch eine Einheit, die sowohl in ideologischen "Parallelaktionen" machtpolitisch übersättigter Nationen als auch im selbstverliebten Spiel mit den Empfindungen der eigenen zärtlich verwöhnten Psyche begründet ist.
Symbolismus, Expressionismus, Psychoanalyse: All solche - meist aus anderen Kontexten entliehenen - Begriffe gelten mit Bezug auf die Literatur immer nur für die Produktion weniger Jahre, für einzelne Facetten schriftstellerischen Schaffens, für kurze Abschnitte im Leben eines Autors und haben als literaturgeschichtliche Termini nur gemeinsam, daß sie höchst unbefriedigend sind. Schon bei seiner 1998 erschienenen "Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1870-1900. Von der Reichsgründung bis zur Jahrhundertwende", dem ersten Teil seines nun vollendeten zweibändigen Projekts, hatte sich daher der an der Freien Universität Berlin lehrende Peter Sprengel entschieden, eine auf den ersten Blick vielleicht ein wenig altmodisch schematisch erscheinende Gliederung nach den traditionellen Großgattungen zu wählen, die er noch dazu - Altphilologe, der er auch ist - ganz gegen die heute üblichen Usancen in der Reihenfolge Erzählprosa, Dramatik und Lyrik bietet, in einer Folge also, die den Vorschriften ältester antiker Literaturtheorien entspricht. Der nichtfiktionalen Prosa, einer in der hier behandelten Periode besonders wichtigen Produktion, wird zu Recht gleichfalls der Rang einer Gattung eingeräumt.
Dadurch, daß bei dieser Anordnung des Stoffes das Schaffen vieler Dichter, deren Werk sich auf mehrere Gattungen erstreckt, an mehr als einer Stelle zur Sprache kommt, stört überhaupt nicht, da Sprengel alles Biographische ohnehin knapp hält und immer nur in Bezug auf einzelne Werke erörtert. Die Erfahrung von Mitforschern, Lehrern und Studenten dürfte ihm längst recht gegeben haben, wie klug die ganz pragmatische Ordnung gewählt ist, deren zweite Gliederungsebene von dem regionalen Prinzip bestimmt ist, daß innerhalb der Gattungen zunächst von der Produktion in der Schweiz gehandelt wird, dann von derjenigen in Österreich und zuletzt von derjenigen, die im Deutschen Reich erschienen war. Daß über dieser Struktur des Bandes epochentypische Besonderheiten, welche die Texte geprägt haben, nicht zu kurz kommen, dafür sorgen jeweils die vorangestellten Einführungen, die von Formen, Stilen, Einflüssen und sonstigen komparatistischen Aspekten handeln.
Hier werden auch Unschärfen erörtert, die das gewählte Einteilungsprinzip zwar erschweren, jedoch nicht in Frage stellen, wie zum Beispiel das zunehmende Ausfransen klarer Grenzen der einzelnen Genres. Häufig faßt Sprengel in einem Kapitel das Schaffen von zwei, vereinzelt auch von mehreren Autoren zusammen: Albert Ehrenstein und Robert Müller, Rilke und Musil bei den österreichischen Prosaisten, mit Stehr und den Brüdern Hauptmann, Jakob Wassermann und Georg Hermann bei den deutschen kommen so zusammen, und nicht immer beziehen sich diese Zusammenstellungen auf Autoren, die bei aller Differenz des Werks so viel miteinander verbunden hat wie Hofmannsthal und Schnitzler. Natürlich wechseln die Zusammenstellungen von Gattung zu Gattung.
Das knapp hundertfünfzigseitige "Porträt einer Epoche", das den Band eröffnet, läßt besonders die charakteristischen Tendenzen der Zeit hervortreten, etwa die Krise der Autorität, die Erfahrung von Beschleunigung und Nervosität, die Neigung zu alternativen Lebensformen, die Kollektivphantasien Tanz, Opfer und Untergang als Voraussetzungen der Kunst; schildert die geistigen Grundlagen der Epoche in den neuen philosophischen und wissenschaftlichen Schulen, aber auch in der Esoterik; zeichnet in ihren Grundlinien Stile und Richtungen vom Jugendstil zum Expressionismus, von der Neuromantik bis zum Dadaismus nach und skizziert schließlich Institutionen und Prozesse des literarischen Lebens, so Gruppenbildungen, Verlage, Zeitschriften, Autorenförderung und - vielleicht in allzu wenigen Strichen - die Einrichtungen und Verfahren der Zensur.
Sachliche Information und behutsame Interpretation, also Unterrichtung über Inhalte, Quellen, Entstehung, zeitgeschichtliche Bezüge, Rezeption, werden unaufdringlich und, weil alles klar gedacht ist, in einer klaren Sprache geboten, die nicht den geringsten Anflug eines - sit venia verbo - verquasten Germanistenjargons aufweist. Man möchte das Buch gern auch als ein Zeichen dafür nehmen, daß inzwischen nicht nur Historiker, sondern auch Literaturhistoriker ihre Verachtung für die narrativen Grundlagen ihres Tuns endlich wieder abgelegt haben. Allenthalben ist zu spüren, daß das Buch nicht als Verschnitt bereits vorhandener Werke entstanden ist, sondern umfassender eigener Belesenheit entstammt. Mit Vergnügen spürt man, wie es dem Verfasser gelingt, die solchen Werken oft inhärente Langeweile durch Ironie - allein schon im Arrangement des Stoffes - fernzuhalten, so etwa wenn er unmittelbar im Anschluß an die verspannten Jugend-Sonette Rudolf Borchardts aus dem Jahre 1913 die "etwas herberen" aus Mynonas "Hundert Bonbons" von 1918 folgen läßt.
An Ausführlichkeit wird Sprengels Literaturgeschichte derzeit von keiner anderen übertroffen, und man hat lange schon auf eine Darstellung wie diese gewartet, deren Horizont der Weite des Gegenstandes statt der Enge von Lehrplänen entspricht: Wo etwa ist außerhalb der Spezialliteratur und Lexika denn noch im Kontext ihrer Zeit die Rede von Autoren wie Paul Boldt, dem durch ein einziges Gedicht, die "Jungen Pferde" (1912), zu Ruhm gelangten Sänger zwiespältiger sexueller Erfahrung, wo von dem Schöpfer melancholischer und zynischer Großstadtgedichte Ernst Blass, wo von dem frühvollendeten Lyriker Alfred Wolfenstein?
Ein unerschöpfliches Werk: belehrendes Handbuch, sicherer Wegweiser und ein Lesebuch voller ungeahnter Anregungen für den Neugierigen - ein Buch für Kritiker und Leser, für Literaturwissenschaftler und Studenten.
HANS-ALBRECHT KOCH
Peter Sprengel: "Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900-1918. Von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Ersten Weltkriegs". C.H. Beck Verlag, München 2004, XIII, 924 S., geb., 49,90 [Euro].
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