Die Goethezeit war keine ruhige Epoche, sondern eine des Umbruchs, der gesellschaftlichen und politischen Neuorientierungen. Das Bild vom Dichterfürsten, für den politisch Lied ein garstig Leid gewesen sei, ist falsch und muß korrigiert werden. Nach Weimar ging Goethe ursprünglich weniger, um literarisch zu arbeiten, als um politisch zu dienen. Hier glaubte er seine humanitären Ideale verwirklichen zu können.
Das Ausmaß der amtlichen und politischen Tätigkeit Goethes im Dienst des Herzogs August ist gewaltig. Erst in den letzten Jahren sind die amtlichen Schriften in Studienausgaben veröffentlicht worden, und erst allmählich beginnt man, Goethe als Politiker ernst zu nehmen. Ekkehart Krippendorff zeigt, wie intensiv Goethe sich mit den ökonomischen Belangen befaßt hat: So ist es ihm gelungen, den Kleinstaat deutlich abzurüsten, die Zahl der Soldaten um mehr als die Hälfte zu reduziere. Man kann Goethe den ersten - und einzigen - Abrüstungsminister der Geschichte nennen. Stets war ihm das Anliegen des einzelnen mindestens ebenso wichtig wie die Staatsräson. Mit dem konkreten Alltag der Menschen der Weimarer Region, des Herzogtums, mit Fragen der Bildung und Arbeit, Wohnung und Umwelt setzte er sich auseinander, sie galten ihm mehr als abstrakte Beschlüsse.
Auch im literarischen Werk Goethes, so macht Krippendorff deutlich, spielt Politiker eine Rolle. Der Bericht Campagne in Frankreich 1792 ist eine Warnung vor nationalistischer Kriegsbegeisterung, er läßt sich als eine Leidensgeschichte der sinnlosen Opfer dieses und damit jeden Krieges lesen. Goethes Beschäftigung mit dem Orient im West-östlichen Divan kann als Modellversuch für die Überwindung kultureller Grenzen dienen. Und mit Faust ist es die Versuchen von völliger Herrschaft über den Menschen und die Natur, welcher der Held erliegt. Indem er sein großes menschheitliches Schlußprojekt letztlich als Herrschaftsprojekt versteht, scheitert er.
Das Ausmaß der amtlichen und politischen Tätigkeit Goethes im Dienst des Herzogs August ist gewaltig. Erst in den letzten Jahren sind die amtlichen Schriften in Studienausgaben veröffentlicht worden, und erst allmählich beginnt man, Goethe als Politiker ernst zu nehmen. Ekkehart Krippendorff zeigt, wie intensiv Goethe sich mit den ökonomischen Belangen befaßt hat: So ist es ihm gelungen, den Kleinstaat deutlich abzurüsten, die Zahl der Soldaten um mehr als die Hälfte zu reduziere. Man kann Goethe den ersten - und einzigen - Abrüstungsminister der Geschichte nennen. Stets war ihm das Anliegen des einzelnen mindestens ebenso wichtig wie die Staatsräson. Mit dem konkreten Alltag der Menschen der Weimarer Region, des Herzogtums, mit Fragen der Bildung und Arbeit, Wohnung und Umwelt setzte er sich auseinander, sie galten ihm mehr als abstrakte Beschlüsse.
Auch im literarischen Werk Goethes, so macht Krippendorff deutlich, spielt Politiker eine Rolle. Der Bericht Campagne in Frankreich 1792 ist eine Warnung vor nationalistischer Kriegsbegeisterung, er läßt sich als eine Leidensgeschichte der sinnlosen Opfer dieses und damit jeden Krieges lesen. Goethes Beschäftigung mit dem Orient im West-östlichen Divan kann als Modellversuch für die Überwindung kultureller Grenzen dienen. Und mit Faust ist es die Versuchen von völliger Herrschaft über den Menschen und die Natur, welcher der Held erliegt. Indem er sein großes menschheitliches Schlußprojekt letztlich als Herrschaftsprojekt versteht, scheitert er.
Ekkehart Krippendorff entdeckt im Politiker Goethe sich selbst
In der Vorrede zum Winckelmann-Buch von 1805, seinem melancholischen Rückblick auf das Jahrhundert der Entstehung des bürgerlichen Humanismus, schreibt Goethe: "Leider ist selbst das kaum Vergangene für den Menschen selten belehrend, ohne daß man ihn deshalb anklagen kann. Denn indem wir die Irrtümer unserer Vorfahren einsehen lernen, so hat die Zeit schon wieder neue Irrtümer erzeugt, die uns unbemerkt umstricken und wovon die Darstellung dem künftigen Geschichtsschreiber, ebenfalls ohne Vorteil für seine Generation, überlassen bleibt." Bestenfalls könne man sich angesichts der Vorbilder "auf seinem Standpunkt, in seiner Beschränkung gleichnisweise gewahr werden". Weise Worte, denen gerade in Goethe-Jahren mit Fleiß zuwidergehandelt wird. Ob seine poetischen Werke belehren, ob sie Ideen und Orientierungen vermitteln können, hat der alte Goethe oft spöttisch dahingestellt gelassen, als Politiker hat er die Öffentlichkeit fast ganz gemieden. Dem Drama, das sich dem Verhältnis von Dichter und Politiker widmet, "Torquato Tasso", läßt sich ein politisches Programm nicht entnehmen. Goethe jedenfalls hat sich Eckermann zufolge 1827 im Zusammenhang mit der "wunderlichen" Figur Tasso über die wunderlichen Deutschen und ihre "tiefen Gedanken" lustig gemacht, "die sie überall suchen und überall hineinlegen".
Goethe war als Politiker und Amtmann in seiner Zeit eine Ausnahme, sein Kleinstaat im Übergang vom absolutistischen Zeitalter zur nationalstaatlichen Ordnung Europas eine winzige Insel der Seligen, deren goldenes Zeitalter nicht lange andauerte. Wer im Zeitalter der Globalisierung mit ihrer Großpolitik Goethe und Weimar als vorbildlich erweisen und Goethes politische Ethik als das eigentliche Vernünftige und Plausible darstellen will, der muß von den Strukturen und Problemen heutiger Politik sehr weit absehen. Das kann durch eine historisierende Untersuchung geschehen, die auf einer gründlichen quellenkritischen Auswertung von Goethes amtlichen Schriften in ihrem näheren und weiteren Kontext beruht. Dies ist jedoch auf Grund der schwierigen Quellenlage zur Zeit nur spezialistisch möglich, eine Überblicksdarstellung wird noch lange auf sich warten lassen, obwohl das Interesse an Goethes Politik in den letzten Jahren angestiegen ist. (Die Problematik zeigt sich bei Wolfgang Rothe, Der politische Goethe, Göttingen 1998.) Die andere Möglichkeit besteht in einer entschlossen aktualisierenden Deutung der bekannten Texte mit der Gefahr, das Auslegen als Einlegen des Erwünschten zu betreiben. Diesen Weg hat Ekkehart Krippendorff in seinen Goethe-Beiträgen gewählt, obwohl er weiß, daß Goethe im Lauf der Geschichte schon für alles Mögliche und Unmögliche in Anspruch genommen worden ist.
Die Vorgehensweise des Berliner Professors für Politikwissenschaft und Internationale Beziehungen beruht auf heuristischen Annahmen über die Aussagekraft der Dokumente, zum Beispiel der, daß das erste Weimarer Jahrzehnt "in nuce den ganzen politischen Goethe" enthält und "eines der aufregendsten Kapitel deutscher Geistesgeschichte darstellt". Dieser Eindruck kann aber auch daher rühren, daß diese zehn Jahre am besten dokumentiert sind. Krippendorff bindet sich derart - und das erstaunt bei einem in der antiautoritären Bewegung verwurzelten politischen Denker - sehr stark an den Kanon, vor allem wird die Autorität des "maßgebenden Menschen" Goethe nirgends in Frage gestellt. Folglich auch nicht die tautologische Basis der traditionellen Goethe-Forschung, die für die Kongruenz von Lebens- und Werkdeutung sorgt. Goethes Leben ist "exemplarische Biographie", weil sie als solche geschrieben und überliefert worden ist.
Krippendorff will zuvörderst dem Vorurteil entgegenwirken, Goethe gehöre zu jenen deutschen Dichtern, die im Sinne Gordon A. Craigs eine "Politik der Unpolitischen" vertreten hätten. Seine Darstellung beruht auf der Überzeugung, daß sich Weimar und Goethe der Herausforderung einer Politik im Wertehorizont der Menschenrechte gestellt haben, wobei der Gleichzeitigkeit von Goethes "Regierungsantritt" mit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung große Strahlkraft zugeschrieben wird. "Goethes exemplarische und von ihm auch bewußt als Antwort auf die heraufziehende Moderne konstruierte und stilisierte Existenz" erscheint dabei, ebenso wie "Weimar als Alternative", als ein Momento versäumter Möglichkeiten der deutschen und europäischen Geschichte, als Gleichnis von "einer anderen politischen Moderne". Dies läuft auf ein Lob der Kleinstaaterei, des friedfertigen lokalen Handelns bei globalem Denken hinaus, und so wird Goethe die "feste Überzeugung" zugeschrieben, "daß große Staaten generell eine Gefahr für die politische Kultur, für ein friedlich-bürgerliches Zusammenleben" darstellen. Daß das Modell Weimar historisch betrachtet ein Mißerfolg war, verschlägt Krippendorff zufolge dagegen nichts. Vielmehr erscheint der Mißerfolg geradezu als Gütesiegel einer politischen Haltung wider den Zeitgeist: "Daß Goethes Botschaft einer ethisch begründeten Politik nicht angenommen, nicht wahrgenommen, nicht für wahr erkannt wurde, ist ihm nicht anzulasten, sondern seinen Zeitgenossen und uns Nachfahren."
So wird zum Beispiel Goethes aussichtsloser Kampf gegen Newton in seiner Farbenlehre zum ökologisch fundierten Hintergrund einer politischen Ethik, die sich gegen eine "die Natur unterwerfende Herrschafts- und Beherrschungswissenschaft" und die daraus resultierende menschenverachtende Politik der Sachzwänge richtet, "die sich auf bestellte Gutachten von käuflichen Spezialisten oder Industrie-Lobbies verläßt". Als herausragendes Exempel eines selbstlosen, ruhigen und an den arbeitenden Menschen wie an der Natur orientierten Sicheinarbeitens in die Materie bietet Krippendorff dagegen Goethes Anstrengungen um die Wiederbelebung des Bergbaus in Ilmenau auf, in welchem Zusammenhang Goethes schöne Rede zur Eröffnung der Grube am 24. Februar 1784 als Ausdruck einer "nicht verhandelbaren" Verantwortungsethik gelesen wird, die im Fall Goethes mit dessen Gesinnungsethik übereinfalle. Das Projekt war freilich eine kapitale Fehlplanung, eine fortgesetzte Katastrophe in finanzieller, bergbautechnischer und sozialer Hinsicht, die mit dem letzten Wassereinbruch 1796 ihr Ende fand. Krippendorff läßt sich jedoch nicht davon abhalten, Ilmenau als Modell zu empfehlen, wie "gesellschaftlich nützliche Unternehmungen unter Anleitung von Fachleuten in gemeinschaftlicher Verantwortung und zum größeren Nutzen der Menschheit zustande zu bringen" seien. Damit versetzt Krippendorff Goethe entgegen seiner Absicht tendenziell ins Fach einer okkasionellen politischen Romantik, der es auf die praktischen Folgen der Politik nicht ankommt, solange die Gesinnung stimmt. Umgekehrt sucht Krippendorff bei Goethe nach Bestätigung für sein Mißbehagen an der parlamentarischen Demokratie: "Die Zweifel an der politischen Weisheit von Mehrheitsentscheidungen sind heute eher noch berechtigter geworden, als sie es damals zu sein schienen."
Im Mittelpunkt von Krippendorffs Buch steht Goethe als einzigartiger Friedenspolitiker. Er sei nicht nur der erste und einzige "Abrüstungsminister" der Geschichte gewesen, indem er die Weimarer Truppe zugunsten sinnvoller Projekte reduziert habe, sondern habe überdies in einer nur Konfuzius vergleichbaren Weise die Friedfertigkeit in den Mittelpunkt des politischen Denkens und Handelns gestellt. In der "Campagne in Frankreich 1792" und der "Belagerung von Mainz" habe Goethe die "Leidensgeschichte der sinnlosen Opfer dieses und damit jeden Krieges" geschrieben. Diese Texte seien gar als Ansätze zu einer "Kriegserlebnisse in eine Kriegskritik verwandelnden Gegen-Geschichtsschreibung ,von unten'" zu lesen. Das ist gewiß kein ganz falsches Bild, allerdings weiß man über den ganzen Verlauf von Goethes Tätigkeit in der Kriegskommission mangels erhaltener Akten sehr wenig. Um Goethes Verhältnis zu Napoleon drückt sich Krippendorff spekulativ herum. "Offensichtlich erhoffte er sich von Napoleons Erfolgen eine Art Neuauflage der Pax Romana, die immerhin eine der stabilsten Friedensordnungen der europäischen Geschichte gewesen war." Nobel freilich konzediert Krippendorff auch Goethe das Recht auf Irrtum und notiert gerührt, daß dieser seine Fehleinschätzungen manchmal dreißig Jahre später korrigiert.
Bedenklich wird es, wenn der heutige Friedensfreund Goethes weitgehende Ablehnung des Krieges mit dem Prinzip des lokalen Handelns ("Ein jeder kehre vor seiner Tür") kreuzt und polemisch auf die Gegenwart anwendet: "Was haben die gewalttätigen internationalen Friedensstifter heute in den fremden Häusern zu suchen, nachdem sie zuvor die ökonomischen und sozialen Lebensbedingungen ihrer Bewohner ruinierten und den rivalisierenden Machteliten die Waffen lieferten?" Verwunderlich ist auch, daß ein Politikwissenschaftler Goethes biologistisch gefärbte Definition, der Krieg sei eine Krankheit, der Frieden aber der "Prozeß gesunden, organischen, natürlichen Wachstums", über die Maßen fasziniert als "eine ungeheuer bedeutende, höchst folgenreiche und real wie im übertragenen Sinne schmerzhafte Aussage" preist. Dem pathologischen Vokabular Goethes sollte man nach einschlägigem Mißbrauch im zwanzigsten Jahrhundert distanzierter gegenüberstehen. Dagegen fällt das Fazit erstaunlich viel schlichter aus, als sich die Problematik bei Goethe darstellt. Würde sich die Erkenntnis durchsetzen, daß "das Leben eben kein Nullsummenspiel" ist, "so ist ewiger Frieden gemacht". Das kann ja wohl nur heißen, daß wir den Serben und den Bosniern von Herzen ein gesundes Wachstum und schöne Einsichten wünschen und den Rest der gütigen Natur überlassen sollen, die Goethe zufolge ihren "echten Kindern" auch "Schmerzen und Übel" zufügt, damit sie "es von sich weisen und ihm zum Trutz" handeln.
Was noch am Bild der politischen Korrektheit fehlt, ist der Goethe "der interkulturellen Toleranz" und der Diagnose der "tiefsitzenden Krankheit der westlichen Moderne", die sich im Prozeß der "Entsinnlichung" äußere. Im Dialog mit der arabischen Welt habe Goethe "eine Chance der Heilung" aufgewiesen, die Botschaft des "Divan" sei daher von "ungebrochener Aktualität" und als Haltung "überzeitlich gültig". Goethe habe schon "ganz konkrete Erfahrungen" dessen gemacht, was wir heute mit "multi-kulti" bezeichnen. Krippendorff meint damit einen "mahometanischen Gottesdienst", der 1814 in Weimar stattfand und zur Folge hatte, daß sich einige Damen der Weimarer Gesellschaft aus der Bibliothek eine Übersetzung des Korans erbaten. Solche kleinen Effekte wünscht sich der Deuter auch für die Gegenwart Deutschlands.
So steht der politische Goethe schließlich für alles, was Krippendorff in der westlichen Gesellschaft defizitär erscheint, für nicht weniger als die Notwendigkeit eines umfassenden "Paradigmenwechsels" der politischen Handlungsorientierung. Krippendorff ist sich in seinem Lob des Mißerfolgs gleichnisweise gewahr geworden, er hat den Schleier vor dem politischen Goethe gehoben und sich selbst und seine eigenen Überzeugungen erblickt. Es handelt sich dabei zweifellos um eine Vereinnahmung mit beschränkter Belehrungskraft hinsichtlich der Irrtümer, die uns umstricken, wofür man den Autor aber nicht anklagen kann. Recht gelesen und - wie der Kritiker Goethe zu sagen pflegte - nach seiner Art gewürdigt, wird das Buch dem geneigten und kritischen Leser Goethes tolerante Lehre vom auszuhaltenden Widerspruch aktuell illuminieren. FRIEDMAR APEL
Ekkehart Krippendorff: "Goethe. Politik gegen den Zeitgeist". Insel Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig 1999. 232 S., geb., 44,- DM.
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