Unter allen Einwänden gegen den Glauben an Gott nimmt die Leidproblematik seit jeher die zentrale Stellung ein: Warum hat Gott eine Welt erschaffen, in der das Dasein für unzählige Lebewesen oft äußerst leid- und schmerzvoll ist? Hätte Gott eine bessere Welt mit weniger Leid erschaffen können? Wenn ja, warum hat er nicht die bessere, weil weniger leidvolle Alternative gewählt? Wenn nein, kann er dann weiterhin als allmächtig und gütig bezeichnet werden? Dienen Übel und Leid einem Sinn bzw. einem Zweck, der ohne ihre Existenz nicht realisierbar wäre? Warum greift Gott nicht oder nicht häufiger in die Welt ein, um Leid zu verhindern?
Obwohl schon mehrfach totgesagt, erweist sich das oben geschilderte Theodizee-Problem gegenüber allen Verdrängungs- und Beerbungsversuchen als resistent. Armin Kreiner greift die Argumente auf, mit denen Antwort gesucht wird auf die Frage, wo Gott im Leid bleibt, und prüft ihre Stichhaltigkeit.
Auf dem Spiel steht dabei zwar zunächst die rationale Verantwortbarkeit des Glaubens an Gott. Im letzten aber geht es um nichts anderes als um die existentielle Tragfähigkeit christlicher Hoffnung.
Obwohl schon mehrfach totgesagt, erweist sich das oben geschilderte Theodizee-Problem gegenüber allen Verdrängungs- und Beerbungsversuchen als resistent. Armin Kreiner greift die Argumente auf, mit denen Antwort gesucht wird auf die Frage, wo Gott im Leid bleibt, und prüft ihre Stichhaltigkeit.
Auf dem Spiel steht dabei zwar zunächst die rationale Verantwortbarkeit des Glaubens an Gott. Im letzten aber geht es um nichts anderes als um die existentielle Tragfähigkeit christlicher Hoffnung.
Armin Kreiner rechtfertigt die Übel der Welt mit der Freiheit der Menschen
Erstmals seit Jahrzehnten stellt sich ein deutscher Theologe dem Theodizeeproblem nicht mit einer Strategie, die sich ohne großen Aufwand ad absurdum führen läßt. Wenn der allgütige Gott bei genauerer Prüfung seiner Schöpfung nur als "unerforschlich gut" bezeichnet werden kann, so wäre es eigentlich weniger mißverständlich, wenn man ihn einfach unerforschlich nennen würde. Und könnte man ihn mit derselben Logik, mit der man daran festhält, ihn als unerforschlich gut zu bezeichnen, nicht auch unerforschlich böse nennen? Hat er nicht vielleicht das Gute, das seine Schöpfung ohne Zweifel auch enthält, nur deshalb geschaffen, um das Schlechte in einem um so helleren Licht erscheinen zu lassen?
Doch nicht nur der beliebten Lösung der "Reductio in mysterium", wie Kreiner sie treffend nennt, erteilt der Autor eine Absage. Auch von der Sichtweise Hans Küngs, wonach das Problem "theoretisch" nicht zu lösen ist, hält Kreiner wenig. In der Tat: Wenn das Theodizeeproblem theoretisch nicht zu lösen ist, ist es überhaupt nicht lösbar. Es ist nämlich nun einmal primär ein theoretisches Problem: das Problem der Vereinbarkeit gewisser traditioneller Aussagen über Gott mit der Tatsache des Übels in der Welt. Damit ist freilich nicht gesagt, daß die Einstellung zu diesem theoretischen Problem nicht praktische Folgen nach sich ziehen könnte. Wer nicht an die Existenz eines allmächtigen und allgütigen Gottes glaubt, wird vernünftigerweise auch kaum zu der religiösen Haltung eines unbedingten Vertrauens auf Gott neigen. Ein Theologe, der hier vorschlägt, das theoretisch unlösbare Problem in der religiösen Praxis dadurch zu bewältigen, daß man die theoretische Unlösbarkeit verdrängt, gleicht einem Ehetherapeuten, der einer immer wieder von ihrem Mann hintergangenen Frau den Rat erteilt, in ihrem praktischen Verhalten gleichwohl unbeirrt auf die Liebe und Treue ihres Mannes zu vertrauen.
Sicher haben jene bibelgläubigen Christen recht, die betonen, daß ihr Gott nicht mit dem Gott der Philosophen identisch ist. Daraus darf man aber nicht den Fehlschluß ziehen, der Gott des praktischen Glaubens sei gegen jede philosophische Kritik zu immunisieren. Der Glaube darf, wenn er nicht unverantwortlich sein will, dem Denken nicht widersprechen. Zu Recht hält Kreiner dem Neutestamentler Klaus Berger, dessen "praktische" Theodizee allein darauf basiert, den im Glauben konkret erfahrenen Gott der Bibel gegen den bloß erdachten Gott der Philosophie auszuspielen, entgegen: "Die Bibel mag von Leuten gelesen werden, die vom ,Denken' nichts halten; geschrieben wurde sie von ihnen nicht."
Auch die "Theologie der Hoffnung" Jürgen Moltmanns, die mit der These vom "gekreuzigten Gott", der als Gott selber leidet, Hand in Hand geht, überzeugt Kreiner als praktischer Lösungsvorschlag nicht. "Warum kann die Gemeinschaft mit Gott", so schreibt er, "nur dann Heil, Freude und Leben sein", wenn (so Moltmann) "alles Unheil, die Gottverlassenheit, der absolute Tod, der unendliche Fluch der Verdammnis und das Versinken im Nichts in Gott selbst ist"? Kreiner erblickt in einem solchen Gott einen recht zweifelhaften "Garanten eschatologischer Hoffnung" und sieht sich bei diesem Zweifel von Moltmann "mit einer weitgehend unverständlichen Liebeslyrik und aus der Luft gegriffenen Spekulationen über das trinitarische Innenleben Gottes abgespeist". Den größeren Teil aller theologischen Lösungsversuche des Theodizeeproblems weist Kreiner mit Argumenten zurück, die auch dem Atheisten aus der Seele sprechen. Wie nun sieht die eigene Lösung des Mainzer Fundamentaltheologen aus?
Im Zentrum steht das Argument der Willensfreiheit: Eine Welt mit Menschen, die als freie Personen von Gott erschaffen sind und folglich diese ihre Freiheit gelegentlich auch zum Bösen nutzen, ist alles in allem besser als eine Welt ohne Menschen beziehungsweise mit von Gott determinierten Lebewesen, die stets das Gute tun. Bei der ungemein detaillierten Erörterung dieses Argumentes zeigt sich Kreiner auf der Höhe analytischen Philosophierens. Doch auch dann, wenn man dem Autor in bezug auf tatsächliches Vorhandensein, genaue Bedeutung und prinzipiellen Wert menschlicher Willensfreiheit folgt, ist die Annahme der Allgüte Gottes noch nicht über den Berg. Vielmehr lautet nun die Frage: Warum ein solches Maß an moralischem Fehlverhalten mit derart katastrophalen Konsequenzen, wie die Welt sie tatsächlich enthält? Es spricht für die Redlichkeit Kreiners, daß er dieser eigentlichen Crux des Rechtfertigungsargumentes der Willensfreiheit nicht ausweicht. Warum ein Adolf Hitler? Hätte nicht ein Jürgen Schneider ausgereicht, um die freie Möglichkeit von Gottes Ebenbild zum Bösen zu exemplifizieren?
Kreiners Antwort kann, so klug sie ausgedacht sein mag, letztlich nicht überzeugen. Er behauptet nämlich, daß "mit dem Ausmaß des Freiheitsspielraums sowohl das Ausmaß der möglichen Leidzufügung wie auch die Qualität der davon abhängigen Werte zunimmt". Mit anderen Worten: Je mehr Unheil der Mensch in seiner Freiheit anrichten kann, um so besser. Denn um so höhere moralische Werte kann er dann als frei handelnde Person zur Geltung bringen. Dieses Werturteil jedoch steht nicht nur in deutlichem Widerspruch zu einigen unserer im moralischen Alltag fraglos akzeptierten Wertungen. Es widerlegt in seiner Radikalität sogar die unbeschränkte Güte Gottes. Wenn dieser Freiheit nämlich tatsächlich der von Kreiner behauptete Wert zukommt, dann ist Gott bei seiner Schöpfung des Menschen in der Verwirklichung dieses Wertes offenbar auf halbem Wege stehengeblieben. Er hat nämlich die Welt so eingerichtet, daß zwar jedermann als personales Wesen die freie Entscheidungsmöglichkeit hat, selbst das radikal Böse - wie etwa Auschwitz - zu wollen, daß aber nur sehr wenige Menschen - wie etwa Hitler - auch die freie Handlungsmöglichkeit besitzen, einen derart bösen Willen in die Tat umzusetzen. Kreiners Theodizeelösung "Je mehr Freiheit, um so besser" ist darauf angewiesen, diese Freiheit jedenfalls auch im Sinn von Handlungsfreiheit zu verstehen. Dann aber hätte ein grenzenlos guter Gott den Menschen viel mehr von dieser Freiheit einräumen müssen, als er es tatsächlich getan hat. Er hätte die Naturgesetze bei der Schaffung der Welt doch beispielsweise so gestalten können, daß es keinerlei Waffen bedarf, um einen Konkurrenten aus Bosheit zu töten oder zum Krüppel zu machen, sondern daß ein böser Blick, verbunden mit einer verächtlichen Handbewegung, hierzu ausreicht.
In Wahrheit ist es doch wohl äußerst anfechtbar, das Prinzip "Je mehr Handlungsfreiheit, um so besser" in Kenntnis der möglichen Konsequenzen einer solchen Wertung zu vertreten. Soweit die Freiheit zu moralischem Fehlverhalten einen Wert darstellt, der die Folgen dieses Fehlverhaltens aufwiegen kann, dürfen diese Folgen schon auf Erden sicher nicht beliebig schwer sein. Hätte Gott unter prinzipieller Wahrung der menschlichen Willensfreiheit die Welt nicht ohne Zweifel besser so eingerichtet, daß ein Hitler jedenfalls bei der Verwirklichung seines verbrecherischen Willens engere Grenzen vorgefunden hätte?
Natürlich hätte Gott, um einem Adolf Hitler die Möglichkeit zum Zweiten Weltkrieg zu verschließen, zu diesem Zweck die allgemeinen Bedingungen menschlichen Handelns in der Welt in einigen Punkten anders gestalten müssen. Dies aber, so scheint es, müßte ihm kraft seiner Allmacht durch Ingeltungsetzung einiger anderer als der tatsächlichen Naturgesetze ein leichtes gewesen sein. Im speziellen Kontext der Rechtfertigung des natürlichen, von menschlichem Fehlverhalten unabhängigen Übels in der Welt gibt Kreiner unter Berufung auf moderne physikalische Theorien freilich der Vermutung Raum, daß sämtliche Naturgesetze derart eng vernetzt sind, daß eine isolierte Änderung auch nur einiger von ihnen mit der Existenz des Menschen nicht vereinbar wäre. Es mag den Atheisten unter unseren Naturwissenschaftlern überlassen bleiben, sich mit dieser auf den ersten Blick doch etwas kühn anmutenden Hypothese kritisch zu befassen.
Auf viele hervorragende Erörterungen und Argumente in dem Buch (etwa über das Problem eines göttlichen Vorauswissens freier menschlicher Handlungen) konnte hier nicht eingegangen werden. Es sei jedoch betont: Nicht nur für Theologen, sondern auch für ungläubige Menschen, sofern sie Argumenten zugänglich geblieben sind, stellt es in seiner großen Offenheit und Klarheit eine erhebliche Herausforderung dar.
Kreiner konnte es in seinem vorliegenden Buch freilich nur darum gehen, Contra-Argumente gegen die im Glauben vorausgesetzte Existenz eines allgütigen und allmächtigen Gottes zu entkräften. Er sei zu dem weiteren Versuch ermuntert, in einem ähnlich ehrgeizigen Werk Pro-Argumente für die Existenz eines solchen Gottes in Auseinandersetzung mit dem metaphysischen Skeptizismus vorzutragen. Auf diese Weise könnte er dem schlechten Ruf, in den sein theologisches Fachgebiet unter denkenden Menschen durch die Pastoralrhetorik unserer Modetheologen geraten ist, weiter entgegenwirken. NORBERT HOERSTER
Armin Kreiner: "Gott im Leid". Zur Stichhaltigkeit der Theodizee-Argumente. Herder Verlag, Freiburg 1997. 428 S., br., 78,- DM.
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