Klassenkampf reloaded
Der Titel ist bewusst mehrdeutig und vielleicht sogar etwas irreführend. Es geht darin kaum um die politische Funktionsweise und die Leistungsfähigkeit der repräsentativ-demokratischen Herrschaftsform. Der Autor rechnet in diesem Büchlein mit der liberalen Demokratie der
westlichen Gesellschaften ab, indem er darin immanente Begrenzungen oder "Schließungen" aufführt. Das…mehrKlassenkampf reloaded
Der Titel ist bewusst mehrdeutig und vielleicht sogar etwas irreführend. Es geht darin kaum um die politische Funktionsweise und die Leistungsfähigkeit der repräsentativ-demokratischen Herrschaftsform. Der Autor rechnet in diesem Büchlein mit der liberalen Demokratie der westlichen Gesellschaften ab, indem er darin immanente Begrenzungen oder "Schließungen" aufführt. Das heißt, dass eine privilegierte Gruppe ihre einmal erlangten Vorteile absichert und Macht über die Ausgeschlossenen ausübt. Dieser Ausschluss erfolgt über vier Dimensionen:
1. Der klassisch marxistische Gegensatz zwischen den ausbeuterischen Kapitalist*innen und den unteren ca. 99 Prozent.
2. Gegensätze innerhalb der 99 %, etwa zwischen Besser- und Schlechterverdienenden, Akademiker*innen und Arbeiter*innen, Männern und Frauen sowie Jungen und Alten. Dabei grenzt jeweils die erstere die letztere Gruppe aus.
3. Die Angehörigen eines Staates grenzen die nicht staatsangehörigen aus, d.h. die lange ansässigen Ausländer*innen, die frisch angekommenen Migrant*innen und die im Ausland lebenden Menschen.
4. Alle Menschen beuten die Natur (Tiere, Pflanzen, Rohstoffe, Ökosysteme) aus.
Der Ansatz ist an sich durchaus interessant und wird vom Autor plastisch herausgestellt. Methodisch ist es aber nichts anderes als eine Erweiterung des marxistischen Materialismus auf weitere Dimensionen. Fast ausschließlich wird der ökonomische Blickwinkel herausgehoben, kulturelle Aspekte sind allenfalls 'geistiger Überbau'. Und wie Wohlstand entsteht, interessiert ihn nicht, nur die Verteilung. Die Klassengegensätze, die der Autor auch explizit als solche verstanden wissen will, werden in klarer und bisweilen gehässiger Schwarz-Weiß-Sicht zwischen Privilegierten und Unterdrückten gezeichnet.
Das grundlegende Rezept zur Überwindung der genannten Missstände ist eine etwas diffuse "kämpferische Solidarität" der jeweils Ausgegrenzten mit dem Endziel einer "Utopie". Letztlich führt eine Abschaffung des "Systems der privaten Verfügung über den Prozess der wirtschaftlichen Wertschöpfung" wohl auf sozialistische Wege. Die einzige wirklich konkrete Maßnahme, die er vorschlägt, ist die sofortige Verleihung aller staatsbürgerlichen Rechte an alle im Lande lebenden Ausländer sowie Migranten nach der Einreise. (Ok, und natürlich das Gender-Vollprogramm, deshalb hier auch die Sternchen.)
Welche Position Lessenich zur real existierenden westlichen Demokratie letztlich bezieht, ist nicht ganz eindeutig. Er gesteht zu, dass es in den (proto-)demokratisch verfassten Staaten der letzten 200 Jahre möglich war - wenn auch gegen erhebliche Widerstände der jeweiligen Obrigkeit -, Dinge wie Bürgerrechte, Sozialstaat und rechtliche Gleichstellung der Geschlechter (inkl. Frauenwahlrecht) durchzusetzen. Seit etwa den 1970ern scheint das seiner Ansicht nach nicht mehr der Fall zu sein - im Gegenteil, die Besitzenden hätten den sozialen Konsens einseitig aufgekündigt. Die seitdem erfolgten Fortschritte in der Arbeits-, Umwelt- und Verbraucherschutzgesetzgebung nimmt er dagegen gar nicht erst zur Kenntnis. Es bleibt offen, ob er die von ihm gewünschten Änderungen innerhalb der heutigen, von ihm so genannten "national-sozialen" Demokratie für durchsetzbar hält oder es ein anderes System braucht.
Insgesamt eine einigermaßen lesbare, in sich abgeschlossene und auch logisch recht tragfähige Fundierung eines "links-grünen" Weltbildes. Angehörige anderer Weltanschauungen müssen bei der Lektüre etwas Toleranz mitbringen, sowohl gegenüber dem Inhalt als auch dem Duktus des Autors.