Die einen nannten ihn einen "Glücksfall in der Geschichte der Bundesrepublik", für die anderen war er ein "notorischer Renegat", der zeitweise im "Sold Moskaus" stand. Oder sie verspotteten ihn als "Gandhi-Apostel" und politischen "Tragikomiker". Dass Gustav Heinemann mittlerweile zu den eher "vergessenen Bundespräsidenten" gezählt wird, ist angesichts seines ertragreichen Wirkens als Bundespräsident und zuvor als Rechtspolitiker zu bedauern. Gerade in der neu belebten Diskussion um "Bürger- bzw. Zivilgesellschaft" in Deutschland hat Heinemanns Lebensweg mit seinen zahlreichen Facetten und seinen Um-, vielleicht auch Irrwegen mehr Beachtung und seine Äußerungen zu "Bürgermut" und "Eigenverantwortung" stärkeres Gehör verdient. An Gustav W. Heinemann schieden sich die Geister. Was ihm vonseiten der CDU, die er einst mitbegründet, dann aber im Streit mit Adenauer über die Wiederbewaffnung verlassen hatte, als Verrat und Opportunismus vorgeworfen wurde, rühmten seine Anhänger als Prinzipienfestigkeit gemäß dem Grundsatz "Parteienwechsel statt Überzeugungswechsel".Heinemann war aus innerster Überzeugung Citoyen, der sich bewusst in die Tradition der bürgerlichen Freiheitsbewegung von 1848 stellte. Allem bourgeoisen Verhalten, d. h. einem vornehmlich auf Besitz und Privilegien ausgerichteten Handeln, stand er kritisch gegenüber. Insofern war der "Bürger Heinemann" zugleich einer "der hellsichtigsten Kritiker des deutschen Bürgertums im 20. Jahrhundert". Glaubwürdigkeit gewannen Heinemanns Worte nicht zuletzt dadurch, dass er mit seinem eigenen Lebensweg ein Beispiel für diesen Versuch einer möglichst selbstbestimmten bürgerlichen Existenz gab, in dem geistige Unabhängigkeit sich mit sozialer Verantwortung aus christlicher Überzeugung verband.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Thomas Flemmings Biografie des Bundespräsidenten Gustav Heinemann bespricht Jürgen Schmude, der als SPD-Politiker, Justizminister und Präses der evangelische Kirche immer einen ähnlichen Karriereweg zurückgelegt hat wie Heinemann, fehlte nur das letzte Stückchen. Die Arbeit des Berliner Historikers nennt Schmude "lehrreich und gut lesbar", das Leben des Politikers, der sich so schwer tat mit Parteien, sieht er hier verständnisvoll, aber mit kritischem Blick nachgezeichnet. Dem Rezensenten fällt auf, dass Flemming Heinemanns Verhalten gegenüber den Nationalsozialisten nicht bewertet, sondern als "Kompromiss" beschreibt, der dem Anwalt Heinemann Unabhängigkeit und Existenz sichern sollte. Und die Nachkriegslage im zerstörten Essen findet er sehr eindrücklich geschildert. Neues hat Schmude wohl nicht erfahren, aber alles gründlich und detailliert erzählt.
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