Hauptstädte der Erinnerung: das sind für Andre Aciman zugleich die Städte seines Exils. Von Alexandria führte sein Weg über Rom und die kleinen Plätze Paris' bis nach New York mit seinen geisterhaften U-Bahnhöfen und unbekannten Parks. Acimans elegante, anschauliche Texte beschäftigen sich mit Verlust, und mit der Sehnsucht, die einen immer dorthin zieht, wo man gerade nicht ist.
Was macht man nur mit so viel Blau, fragt sich André Aciman, als er die toskanische Küste am Ligurischen Meer entlangfährt. Sie blendet ihn, diese blaue wunderbare Weite, aber so viel Meer will er gar nicht sehen. Im amerikanischen Original heißt sein Reisebuch im Untertitel "Essays über Exil und Erinnerung". Und tatsächlich geht es André Aciman weniger um Landschaften als um Kopflandschaften, mehr um seine Wahrnehmung als um die Städte selbst. Es ist eben auch eine Reise ins eigene Ich, und er blickt verträumt und dennoch mit klarsichtiger Schärfe auf die Orte seiner Erinnerung. So wirken selbst pulsierende Millionenstädte wie die ägyptische Hafenstadt Alexandria in seinen Betrachtungen wie abgeschiedene Orte der stillen Kontemplation. In Alexandria hat Aciman (Jahrgang 1951) seine frühe Kindheit verbracht. Mit seiner jüdisch-türkisch-italienischen Großfamilie mußte er später nach Europa fliehen. Rom und Paris waren Stationen seines Exils, und heute lebt er - freiwillig und mit Genuß - in Manhattan. André Aciman sieht das Meer und denkt über den Maler Matisse nach, für den Wasser und Sonne wichtige Sujets seiner Gemälde waren. So wichtig waren sie, daß er den freien Blick des Betrachters gern darauf verstellte - seine Sonne sieht man auf einem Bild erst durch eine schmale Ritze in der Jalousie. Matisse entwickelte - in der Darstellung des Autors - eine hochgradig feinsinnige Ästhetik der Spiegelung und Verschleierung, die sich Aciman selbst zu eigen macht, wenn er seine Hauptstädte der Erinnerung aufsucht. So wählt er komplizierte Wege an der Küste, die ihm immer nur einen kleinen Blickausschnitt auf das geliebte Meer erlauben. Er genießt es auch, wenn sich in bestimmten Sichtausschnitten eine Stadt in der anderen schattenhaft spiegelt. Eine solche "Oase der Seele" ist für ihn der stille, auch etwas heruntergekommene Straus Park in New York. Hier kreuzen sich vier atmosphärisch grundverschiedene Straßen, und lassen europäische Städte wie London und Amsterdam in seiner Erinnerung auftauchen. Der Broadway erinnert ihn an Nordeuropa, die Hundertsechste Straße an ein Städtchen an der italienischen Riviera. Schattenstädte seiner Erinnerung. Emigranten suchen in der Fremde die Heimat, immer mit einer vagen, leise schmerzenden Sehnsucht: den Ort, an dem man sich gerade nicht befindet.
evas
"Hauptstädte der Erinnerung - Von Alexandria nach New York" von André Aciman. Carl Hanser Verlag, Wien 2004. 144 Seiten. Gebunden, 14,90 Euro. ISBN 3-446-20474-1.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Alexandria ist die Stadt, in der Andre Aciman geboren wurde und die zum Ausgangspunkt all seiner Erfahrungen wurde. Aciman hat die Nostophobie, meint Rezensentin Yvonne Gebauer, und erklärt diese Phobie zur "Angst zurückzukehren", die eng an die Nostomanie gebunden sei, "das obsessive Bedürfnis zurückzukehren". Und aus beidem wiederum, lernen wir von Gebauer, resultiert die Nostographie, das "Schreiben über die unmögliche Rückkehr". Andre Aciman ist ein solcher Nostograph, der die Städte, in denen er lebt oder gelebt hat, New York, Paris und andere, nach seiner eigenen inneren Kartographie aus der Erinnerung vermisst und beschreibt. Und vor allen Erinnerungen steht immer wieder Alexandria, so Gebauer, als "Schatten des Schattens von Alexandria". Ihr hat das Reise- und Erinnerungsbuch Acimans gut gefallen, eine Mischung aus Essays und Reiseschilderungen, aber auch ein Buch über Bücher, was Gebauer wiederum zu Proust führt, dem Erinnerungsspezialisten, dem Aciman wohl auch ein ganzes Kapitel gewidmet hat.
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"eine hochgradig feinsinnige Ästhetik der Spiegelung und Verschleierung"
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.05.04
"Mit wunderbaren, poetischen Worten erläutert der Autor seine Suche und das, was er findet."
Silke Böttcher, Die Welt, 22.05.04
"...ein schönes, leichtfüßiges Buch, komponiert aus Essays und Reisebeschreibungen, in denen alle Nervenstränge der Erinnerung zusammenlaufen. ...eine Liebeserklärung an all die Bücher, die uns auf Reisen schicken, auf die inneren und die äußeren."
Yvonne Gebauer, Süddeutsche Zeitung, 23.06.2004
"...ein kleines Meisterstück autobiografischer Vergegenwärtigung ...ein dichtes Netz von Traumpfaden und Gedankenspuren, eine nächtlich erleuchtete Landschaft von Verlust und dem Distanzglück des Exils. Auch dieses Buch André Acimans würden wir vermissen, wenn es aus unserer Bibliothek verschwände."
Wilfried F. Schoeller, Literaturen, Juli/August 2004
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.05.04
"Mit wunderbaren, poetischen Worten erläutert der Autor seine Suche und das, was er findet."
Silke Böttcher, Die Welt, 22.05.04
"...ein schönes, leichtfüßiges Buch, komponiert aus Essays und Reisebeschreibungen, in denen alle Nervenstränge der Erinnerung zusammenlaufen. ...eine Liebeserklärung an all die Bücher, die uns auf Reisen schicken, auf die inneren und die äußeren."
Yvonne Gebauer, Süddeutsche Zeitung, 23.06.2004
"...ein kleines Meisterstück autobiografischer Vergegenwärtigung ...ein dichtes Netz von Traumpfaden und Gedankenspuren, eine nächtlich erleuchtete Landschaft von Verlust und dem Distanzglück des Exils. Auch dieses Buch André Acimans würden wir vermissen, wenn es aus unserer Bibliothek verschwände."
Wilfried F. Schoeller, Literaturen, Juli/August 2004