Drei Frauen, drei historische Momente und ein Gebäude in der Lerchenstraße in Leipzig. Die "Lerchenstraße" eint nicht nur diese Frauen, sondern bildet eine Konstante gesellschaftlicher Marginalisierung und Ausgrenzung im Deutschland der letzten 80 Jahre.
Da ist Lilo, die sich in den 1940ern ihrem
Vater im kommunistischen Widerstand anschließt und dafür festgenommen wird. Zu diesem Zeitpunkt ist…mehrDrei Frauen, drei historische Momente und ein Gebäude in der Lerchenstraße in Leipzig. Die "Lerchenstraße" eint nicht nur diese Frauen, sondern bildet eine Konstante gesellschaftlicher Marginalisierung und Ausgrenzung im Deutschland der letzten 80 Jahre.
Da ist Lilo, die sich in den 1940ern ihrem Vater im kommunistischen Widerstand anschließt und dafür festgenommen wird. Zu diesem Zeitpunkt ist die "Lerchenstraße" ein Unterbringungsort vor allem für politische Gefangene der Nationalsozialisten.
Da ist Manja, die sich in der DDR der 1980er in den Vertragsarbeiter Manuel aus einem "Bruderstaat" verliebt, von der Volkspolizei erwischt und in der Lerchenstraße - nun Venerologische Station für Frauen mit Geschlechtskrankheiten oder umgangssprachlich "Tripperburg" - weggesperrt wird.
Und zuletzt Robin, die als Sozialarbeiterin in der Gegenwart im Gebäude, das in der Gegenwart der Unterbringung Geflüchteter dient, arbeitet.
Der Fokus des Buchs liegt dabei deutlich auf Manja und der Art und Weise, wie die DDR mit unangepassten Frauen umging, sie kriminalisierte, wegsperrte und versuchte, umzuerziehen. Da ihr Freund Manuel Schwarz ist, richtet dieser Teil des Plots zugleich auch den Blick auf den Rassismus innerhalb der DDR- die natürlich offiziell niemals nicht rassistisch war, auch wenn die Forschung mittlerweile sehr deutlich macht, dass das nicht stimmt.
Mit "Herumtreiberinnen" gelingt es der Autorin Bettina Wilpert nicht nur, ein sehr wenig bekanntes Stück deutscher Geschichte, nämlich die Existenz dieser "Venerologischen Stationen" in der DDR, zu beleuchten. Die Erzählung von drei "Herumtreiberinnen", jede auf ihre Art unangepasst und mit einer spezifischen politischen Umgebung und gesellschaftlichen Normen konfrontiert und im Versuch, sich zu befreien, entwirft auch eine generationenübergreifende, abstrakte Solidarität, schreibt eine weibliche Sicht auf die Geschichte eines einengenden Ortes.
Dieser Ort, der unter anderem Namen real existiert, verweist zugleich auch auf die historische Bedeutung städtischer Gebäude, die sich wandelt, vergessen wird, je nach historischem Kontext aber zugleich symbolträchtig und politisch relevant ist. Und er zeigt auf, dass auch Gebäude, deren historische Bedeutung zeitweise in Vergessenheit gerät, mitunter gruselig konstant genutzt werden können.
Wilperts Sprache und Figurenentwurf mochte ich wie schon bei ihrem Debut sehr. Die Figuren sind ausgearbeitet, nahbar und ihre Träume berühren beim Lesen. Man merkt schnell, dass viel Herzblut im Buch steckt.
Etwas schade fand ich, dass durch die Fülle von Themen manche Inhalte sehr kurz kamen. Während Manjas Geschichte klar im Vordergrund steht und Lilos Geschichte sich ebenfalls entfalten kann, wirkt Robin mitunter mehr als Rahmung, wird ihre Geschichte nur angedeutet. Auch andere spannende Themenfelder - Punks in der DDR, der DDR-Umgang mit Prostitution - hätten gern auf einigen weiteren Seiten behandelt werden dürfen. Gerade im letzten Teil ging mir manches etwas schnell, fehlten mir manche Figuren vom Beginn der Handlung.
Trotzdem ist der Roman insgesamt sehr eindrücklich und in jedem Fall lesenswert. Das Buch wirft viele Fragen auf, verweist auf Leerstellen des historischen Wissens und der historischen Aufarbeitung und regt zur Diskussion an. Zugleich bietet es eine Interpretation der deutschen Geschichte aus weiblich-unangepasster Sicht und ist dabei so mitreißend wie traurig. Bettina Wilpert weckt gekonnt diverse Emotionen in ihren Leser*innen und legt zugleich den Finger in die Wunde, wenn es um historisches Wissen und insbesondere gesamtgesellschaftliche Wissenslücken geht.