Ein Leben im Stakkato der brutalen Aussichtslosigkeit
„Herz in der Faust“ von Sorj Chalandon, erschienen 2025 bei dtv, ist ein wuchtig-wütender Roman, der seinen Leser:innen einiges abverlangt und brachial ehrlich das Leben in Besserungs- und Erziehungsanstalten in den 30er Jahren zeigt. Der in
Frankreich sehr erfolgreiche Roman trifft den Nerv einer Zeit, in der Ausgrenzung und unerbittliche…mehrEin Leben im Stakkato der brutalen Aussichtslosigkeit
„Herz in der Faust“ von Sorj Chalandon, erschienen 2025 bei dtv, ist ein wuchtig-wütender Roman, der seinen Leser:innen einiges abverlangt und brachial ehrlich das Leben in Besserungs- und Erziehungsanstalten in den 30er Jahren zeigt. Der in Frankreich sehr erfolgreiche Roman trifft den Nerv einer Zeit, in der Ausgrenzung und unerbittliche Verfolgung wieder zunimmt, die Armen immer ärmer werden und der Faschismus, der im Roman als Randthema auftaucht, um sich greift. Wie lange kann Konformismus Regelzustand sein, wann muss er abgelöst werden durch Rebellion?
Jules Bonneau, mit Kampfnamen „Die Kröte“ genannt, wird früh in seinem Leben von seinen Eltern sich selbst überlassen und gerät auf die schiefe Bahn – nicht zuletzt, weil Zeit seines Lebens in ihm eine überdimensional große Wut tobt, die er nicht in den Griff bekommt. Eingesperrt in die Korrektionsanstalt Haute-Boulogne auf der Insel Belle-Île, erlebt Jules Machtwillkür und gezielte Demütigung tagein tagaus. Es ist ein fragiles System, in dem es kaum zu Freundschaften kommen kann unter den jungen Menschen und in dem der verliert, der Gefühle zulässt. Dennoch kommt es, eher ungeplant, zum Aufstand, bei dem insgesamt 56 Zöglinge fliehen – auch Jules, der in seine Flucht eher hineingerät. Eine Flucht, die von vornherein ein aussichtsloses Unterfangen ist, denn die Insel liegt zu weit vom Festland entfernt und die Einwohner:innen: sind den jungen Insassen gegenüber nicht freundlich gesinnt. Eine Kopfprämie von 20 Franc für jeden der Ausbrecher macht die erfolgreiche Flucht endgültig zu einem Hiobskommando. Jules trifft auf seiner Flucht auf den Fischer Ronan Kardarn – ein Mann, der sich mit Vergangenheit und Geheimnissen auskennt. Die Beziehung, die sich zwischen beiden entspinnt, ist geprägt von Vorsichtigkeit und Hoffnung, zögerlicher Nähe und notwendiger Distanz.
Chalandon schreibt brachial und bringt das karge Leben auf der Insel in gedrängte, kurze Sätze, die auf die Phantasie einhacken. Hier wird nicht geschont; explizit und ohne Filter wirft er uns in die unglaubliche Brutalität und Kälte von Haute-Boulogne. Hier gibt es keine Helden, hier gibt es nur Verlierer, und der Autor scheut nicht davor zurück uns zuzumuten, dass auch Sympathiefiguren in dieser Geschichte nicht sicher sind. Die irrige Idee der 30er, Menschen durch Brechen zu besseren Menschen zu machen, wird eindrücklich erlebbar. Ein dauerhaftes Fiebern wabert durch die Sätze, die im Stakkatotakt auf die Lesenden einhämmern und durchweg wehtun. Dazwischen immer wieder wilde Traumsequenzen, die schwer von der Wirklichkeit zu trennen sind.
Die Insel und die Erziehungsanstalt werden plastisch beschrieben ohne zu große Ausführlichkeit, Die Charaktere sind klar gegriffen, es ist durchweg kalt in diesem Buch bis zur Flucht. Mit dieser und mit der Begegnung mit Kardarn und seiner Frau wechselt ganz langsam der Ton, der Dialoganteil steigt, im Bilde gesprochen wird das Meer etwas ruhiger – auch wenn der bellende Grundton bleibt. Die Beziehung und Annäherung zwischen Jules, Ronan Kardarn und der Fischermannschaft wird grandios beschrieben, es ist ein Tasten und Wagen, das sich immer mehr ausbreitet, bedroht durch Intrige und Verrat.
Besonders gut gelungen finde ich, dass durch die Tätigkeit von Kardarns Frau Sophie auch die Welt der Frauen in dieser Zeit gezeigt wird inmitten dieses „Männerromans“, in dem männliche Charaktere durchweg der Zeit und dem Ort geschuldet die Handlung dominieren. Hier gibt es niemanden, der ein leichtes Leben hat. Und auch die Polarität von Faschismus versus Kommunismus, die im Untergrund durch das Buch wabert, ist sehr gut herausgearbeitet.
Mich hat das Buch beeindruckt und mitgenommen, vor allem auch, weil Jules nie eine Chance hatte, ein anderer zu sein. Die Prägung durch Kindheit und Biographie ist offensichtlich – und im Umkehrschluss wird auch klar, wie dankbar wir für das Wunder der Psychotherapie sein dürfen. Man würde das all den Kindern wünschen, die in diesen Zeiten so brutal von sadistischen Machtmenschen gebrochen wurden.
Insgesamt zog sich für mich die Lektüre aber leider etwas. Das mag an der Häufung von Brutalität liegen, die sich mit der Zeit einfach abnutzte, oder an dem durchgehenden Stakkato, dass bei mir auf Dauer etwas Anstrengung und Unlust erzeugte. Vielleicht hätte ich mir auch nur etwas mehr Kompaktheit gewünscht, die knapp 400 Seiten hätte ich so nicht gebraucht für die Geschichte. Insofern reicht es nicht ganz für 5 Sterne, aber das Buch ist auf jeden Fall sehr lesenswert und beachtlich.