Viele gibt es nicht mehr von ihnen: Holkham gehört zu den wenigen noch in Familienbesitz befindlichen Herrenhäuser Englands. Die hohen Zwangsabgaben nach dem Zweiten Weltkrieg führten die historischen Immobilien der meisten Großgrundbesitzer in den National Trust, der sich seitdem um die Erhaltung
und Vermarktung kümmert. Mindestens ebenso viele wurden allerdings abgerissen. Holkham hat den…mehrViele gibt es nicht mehr von ihnen: Holkham gehört zu den wenigen noch in Familienbesitz befindlichen Herrenhäuser Englands. Die hohen Zwangsabgaben nach dem Zweiten Weltkrieg führten die historischen Immobilien der meisten Großgrundbesitzer in den National Trust, der sich seitdem um die Erhaltung und Vermarktung kümmert. Mindestens ebenso viele wurden allerdings abgerissen. Holkham hat den Umbruch geschafft, trotz hoher Abgaben und anderer ungünstiger Entwicklungen in der (Familien)geschichte. Heute hat sich das wirtschaftliche Konzept völlig verändert und setzt vor allem auf Tourismus, denn eine reine Landwirtschaft wäre längst nicht mehr profitabel. 450 Mitarbeiter arbeiten heute auf Holkham, so viele wie nie in der Geschichte und das Unternehmen wurde 2023 als „Best large employer in East England“ ausgezeichnet, was für ein herausragendes soziales Engagement spricht.
Der Band ist eine deutlich erweiterte Neuauflage der 2005 erschienenen Monografie, mit zusätzlichen Kapiteln und Fotos, die dem Leser nicht nur einen groben Eindruck des Anwesens vermitteln, sondern fast so lebendig sind wie ein Besuch vor Ort. Alle Räume des Hauptgeschosses werden im Detail vorgestellt, Ansichten aus allen Blickwinkeln, oft noch ergänzt durch Virtual Reality, die mit der Hirmer-App Schwenks und Zooms im Raum erlauben. Bei mir haben allerdings bestimmte Konstellationen zum Absturz der App geführt und die Zooms haben z. T. nicht die gleiche Bildauflösung, sind also digital.
Die von anerkannten Experten geschriebenen Einzelbeiträge beleuchten die wechselvolle Familiengeschichte, deren Adelslinie im 19. Jahrhundert sogar abriss und in einem anderen Zweig der Familie Coke neu installiert wurde. Ein besonderer Fokus liegt auf Thomas Coke, dem 1. Earl of Leicester der 1. Linie, der Mitte des 18. Jahrhunderts Holkham Hall maßgeblich plante und entwarf. Thomas Coke war kein Architektur-Dilettant, sondern hatte sich auf Reisen und durch Selbststudium so weit fortgebildet, dass das Werk tatsächlich als originär von ihm gelten kann. An der sofortigen Ausführung durch eine spektakuläre finanzielle Fehlinvestition gehindert, hatte er 10 Jahre daran geplant, bevor der erste Stein gesetzt wurde. Das Ergebnis ist das wohl schönste palladianische Herrenhaus Englands, das durch äußere Form genauso überzeugt wie durch die historisch gewachsenen und authentisch erhaltene Inneneinrichtung. In der vorliegenden Neuausgabe werden zahlreiche, z. T. erst kürzlich entdeckte Dokumente zur Planungsgeschichte vorgestellt.
Die Innenräume sind ein weiterer Schwerpunkt der Einzelkapitel. Sie werden zum einen als architektonische Meisterwerke dargestellt, zum anderen aber auch als Schatzkammer des Hauses, mit einer der besten privaten Sammlungen antiker Skulptur in England und Gemälden von Weltrang. Viele Vorfahren des heutigen Earl of Leicester waren umtriebige Sammler, die Kunstagenten beschäftigten und auf eigenen Reisen Werke kauften. Das Ensemble sticht in seiner Vielfalt und Qualität deutlich aus den oft „geplünderten“ Einrichtungen in Häusern des National Trust hervor. Alles zeugt von Geschmack und einer nach Generationen zählenden Sammlungsgeschichte. Die Sammlung selber wird übrigens in Kürze auch als Monografie publiziert werden.
Besonders interessant ist das Kapitel über die Funktionsweise des Hauses, das von Anbeginn auf Praktikabilität (im Rahmen der adligen Wohnkonventionen) und Repräsentation setzte. Darin unterscheidet es sich letztlich auch fundamental von seinen palladianischen Vorbildern aus dem 16. Jahrhundert, die niemals wirklich „funktionierten“, sondern deren Zimmerstruktur schlichtweg die Struktur Außenfassade spiegelte. Insgesamt etwas detailliertere Informationen zur praktischen Organisation des Alltags im 18. und 19. Jahrhundert hätte ich mir gewünscht.
„Holkham“ ist einerseits ein klassisches Coffee Table Book zum Durchblättern und Träumen, andererseits aber auch inhaltlich überzeugend. Wer in der Gegend ist, sollte sich Holkham jedenfalls nicht entgehen lassen.