Sie macht sich auf in die Stadt, nach Berlin, aber sie ist nicht allein, sie hat ihre Kindheit bei sich, im Kopf, in den Erinnerungen, im flatternden Herzen. Es ist das Dorf, das sie nicht vergessen wird, niemals, die Straße, auf der sie mit der Mutter gehen musste, der Teich, an dem sie mit dem Vater saß, das Haus. Und es ist der Bruder, der engste Vertraute und Komplize ihrer frühen Jahre, mit dem sie den Sinn für Licht, Grün und Wolken teilte und mit dem sie einen Pakt geschlossen und den sie doch zurückgelassen hat. Dies ist ein Buch über den Versuch eines Neubeginns, der nicht leicht fällt, wenn das, was hinter einem liegt, fast alles hatte von dem, was man als Leben kennengelernt hat. Mit großer sprachlicher Intensität erzählt Julia Blesken in ihrem Debüt von Kinderglück und Verlorenheit, Verrat und Aufbruch, Fragilität und Mut, entwirft so eine Welt an der Schnittstelle: einprägsam und unverwechselbar.
Geschichtsstille: Julia Bleskens Roman produziert trotz der betont emotionslosen Entrückung ziemlich viel Pathos
Die Scham über das Auto kommt mit der Wende. Dabei hatte sich der Vater beim Kauf so darüber gefreut. "Ich bin ein Rudel Wölfe", das Debüt von Julia Blesken, führt in die Geschichtsstille. Ödnis und Zerfall zersetzen diese Prosa bis in die Syntax, die nicht vorwärtskommt. Selbst in verheißungsvolleren Zeiten klingen die Sätze oft wie abgeschnitten. "Im Frühling. Die Knospen der Bäume sind aufgesprungen." Die Erzählerin heißt Re, wie "zurück", was auch ihre Stoßrichtung ist. In Berlin, wo sie mit dem Ersparten des Großvaters studieren will, hält sie es nicht aus. Marode Orte diesseits und jenseits alter Grenzlinien - es ist gleich, wohin diese Protagonistin läuft, ob in die Großstadt oder, wie hier, ins Dorf ihrer Kindheit. Sie ist ohnehin vornehmlich in der Vergangenheit unterwegs. Eine Waldläuferin ohne Orientierungssinn.
Julia Blesken, geboren 1976 in Berlin, beschreibt die "Stille der Welt" in einem stagnierenden, tief gestimmten Ton, als Abgesang, der jeden Aufbruch verhindert oder zumindest verschiebt. Volumen erhält diese fragile Prosa durch die Nebenmelodien, aus denen die Figuren hervortreten wie Gespenster. Das Hauptthema, die DDR, ordnet den Text im Hintergrund, mit unbarmherziger Selbstverständlichkeit, ohne großes Aufheben: "Wir sind draußen, sagt mein Vater, damals schon und jetzt wieder, nur dass es jetzt keinen mehr stört." Hinter diesem kleinen "nur" geht die Erzählerin in Stellung. Sie spürt Fragen nach, denen das Fragezeichen fehlt: "Hatte es einen Augenblick der Entscheidung gegeben." Oft kniet sie sich herab bis auf Kinderaugenhöhe, schildert Phantasiespiele und Rituale zwischen Bruder und Schwester, die mehr als geschwisterlich aneinander gebunden scheinen. Absatzweise verrückt so der Text in einen märchenhaften Ton, der fremd in die Gegenwart ragt wie manchmal Rappertexte von Peter Fox: "Mein Bruder hat goldenes Haar. Es schmeckt nach See."
Illusion und Realität fügen sich zu einer stimmungsstarken Erzählung, die nach und nach ihre Opfer zeigt: die Mutter, einst begnadete Klavierspielerin, die als Melkerin arbeiten muss und im Dorf vor den Augen der Kinder verkümmert; der Vater als Verlierer vor wie nach der Wende; der Bruder, der die Schule ignoriert. Statt zur FDJ geht er mit der Schwester täglich zum See, um Karpfen zu fangen. Mal ist es unausgesprochen das System, nach dem Mauerfall die vermeintliche Freiheit oder überhaupt die Provinz, die Schaden anrichten - abstrakte, gestaltlose Gewalten, die wie böse Stiefmütter wirken, unter denen das Geschwisterpärchen ängstlich niederduckt. Das Ende solcher Überforderungsgeschichten ist voraussehbar trüb - so auch hier. Tabletten und Alkohol produzieren den Eltern einen glanzlosen Schein. Drum herum schimmelt es. Julia Blesken erzählt bisweilen suggestiv von diesem Drama der Abnabelung. Das Abgleiten der Mutter in die Depression bleibt nicht nur als Einzelschicksal erkennbar, sondern eng verwoben mit den Lebensverhältnissen. Stark die Schilderung, wie sie täglich zur Haltestelle läuft, ohne in den Bus einzusteigen. "Sitzt einfach nur da, früher auf einer Holzbank, jetzt auf einem weißen Plastesitz mit Sprung."
Oft aber vertraut die Autorin ihren Bildern nicht und variiert, bis der schöne Ersteindruck zur unentschiedenen Suchbewegung verwäscht: "Zwischen den Zweigen der Kastanien der Himmel. Zartes Blau zwischen Grün. Vielleicht auch Türkis. Das Schwimmbad ist blau gekachelt. Wände, Fußboden, Becken, alles blau. Ozeanblau. Ozeanblau im grünen Licht." Oder sie lässt sich zur Artistik verführen, stellt unnötig um und betont übertrieben: "Über Wurzelstränge auf die Uferböschung zu lief Re ..." Anderes nutzt sich durch Häufung ab. Das Märchenrepertoire, die goldenen Ketten, kleinen Silberkugeln und Glöckchen nehmen bedeutungsschwer überhand. Trotz der betont emotionslosen Einrückung produziert dieser Anspielungsraum Pathos. Wendungen kippen vor allem dann, wenn Betroffenheit und Beobachtung, Teilnahme und Distanz zu eilig ineinandergreifen. Gerade in den überzeugendsten Szenen, die wirken wie hinter Glas gemalt, verstellen plötzlich die Hauptfigur und deren Empfinden die Sicht. Und wenn man in "meergrüne", "hechtgraue" und ähnlichfarbige Augenpaare blicken muss, sehnt man sich nach normalen Augenpaaren.
Sieht man über die Stellen hinweg, vermittelt sich die Verlorenheit der ausgesetzten Figuren. Im besten Fall zwängt sich der Lauf der Geschichte in dieses Debüt. "Mit der Maueröffnung seien alle Grenzen gefallen, wir gefallen, irgendwohin, er wisse selber nicht so genau, wohin, und einen Moment lang sieht es aus, als denke er wirklich darüber nach, wo wir geblieben sind."
ANJA HIRSCH
Julia Blesken: "Ich bin ein Rudel Wölfe". Roman. Jung und Jung, Salzburg 2009. 223 S., geb., 20,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
In den besten Momenten hat sich tatsächlich der Lauf der Geschichte in dieses Debüt von Julia Blesken gezwängt, meint Rezensentin Anja Hirsch, die sehr beeindruckt wirkt, wenn auch nicht ganz hundertprozentig überzeugt. Meist erscheint ihr diese Erzählung, die von einer Familie im Osten erzählt, die es vor und nach der Wende gleichermaßen schlecht getroffen hat, "stimmungsstark", wenn Illusion und Realität sich ineinanderfügen. Sehr suggestiv erzählt Blesken dann von einer depressiven Mutter, die statt als Pianistin als Melkerin arbeitet, von einem Bruder, der statt in die FDJ Karpfenfischen geht und einem Vater, der meint, heute wie in der DDR außen vor zu bleiben, "nur dass es heute niemanden mehr stört". Doch oft übertreibe die Autorin ihre sprachliche Artistik, variiere über jedes einzelnes Augenpaar ("hechtgrau", "meergrün") und verspiele damit Überzeugungskraft.
© Perlentaucher Medien GmbH
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