Dem Verlag Philipp Reclam jun. kommt als einem bildungsbürgerlichen Idealen verpflichteten und in Volksbildung und Schule fest verankerten Traditionshaus eine exponierte Rolle in der öffentlichen Meinungsbildung und in gesellschaftlich-politischen Diskursen zu. Das vorliegende Buch beleuchtet die wirtschaftliche Entwicklung und das unternehmerische Handeln des Verlags in der Zeit von 1933 bis 1945 und arbeitet anhand einer systematischen Analyse der Programmentwicklung heraus, wie sich der Reclam Verlag im Kultursystem des Nationalsozialismus positionierte. An der Schnittstelle von Medien- und Zeitgeschichte, Buchwissenschaft und Verlagskunde verbindet die Studie historisch-hermeneutische und sozialwissenschaftliche Methoden.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Mark Lehmstedt sieht in Karolin Boves Studie eine radikale Korrektur der bisherigen Reclam-Legende. Statt eines "Lavierens zwischen Anpassung und Distanz" erkennt Bove eine "Bereitwilligkeit, die veränderten politischen und somit auch gesellschaftlichen Rahmenbedingungen nicht nur zu akzeptieren", sondern diese bereitwillig unterstützen. Laut ihrer "minutiösen Auswertung", gestützt auf Bilanzen, Auflagebüchern und 125 Grafiken seien "36 Prozent der Titel und 43 Prozent der Autoren" NS-nah gewesen, staunt der Kritiker. Bove zeigt, dass Reclam jüdische Autoren mit besonderem Eifer strich, Feldpostbücher massenhaft produzierte und alles in allem "vor dem Wind" segelte. Lehmstedt lobt die methodische Präzision der Dissertation, die für folgende Studien als Grundlage dienen kann. Dank des "Übergewichts neutraler Titel" konnte der Verlag nach dem Krieg schnell weitermachen, der Seniorchef Ernst Reclam wurde zwar nach dem Krieg kurz festgenommen, aber schnell wieder freigelassen, erzählt der Kritiker, wohl auf Geheiß der Sowjets. Doch der Mythos, Reclam habe sich mutig von den Nazis zu distanzieren versucht, kann nach dieser Lektüre nicht bestehen, schließt der Kritiker.
© Perlentaucher Medien GmbH
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