Warum wir helfen müssen
„In deinem Schlaf“ von Ekaterine Togonidze, erschienen 2025 im Septime Verlag, hat eine große Sogwirkung auf mich ausgeübt, ein Buch, das mich emotional wirklich berührt hat. Das Buch beschäftigt sich mit den Auswirkungen des Georgien-Abchasien-Konfliktes – vor allem aber
zeigt es auf, wie sehr Sicherheit ein Grundbedürfnis aller Menschen ist und macht somit den Zynismus…mehrWarum wir helfen müssen
„In deinem Schlaf“ von Ekaterine Togonidze, erschienen 2025 im Septime Verlag, hat eine große Sogwirkung auf mich ausgeübt, ein Buch, das mich emotional wirklich berührt hat. Das Buch beschäftigt sich mit den Auswirkungen des Georgien-Abchasien-Konfliktes – vor allem aber zeigt es auf, wie sehr Sicherheit ein Grundbedürfnis aller Menschen ist und macht somit den Zynismus deutlich, den die Welt der Privilegierten ausstrahlt, wenn wir jeden Tag entscheiden, wer ein Recht auf diese Sicherheit hat – und wer nicht.
Gabi, die Tochter von Nia und Demna, liegt in einem tiefen Schlaf, aus dem sie einfach nicht erwachen will, seit sie nur knapp einem Erdbeben entkam – weil ihr Vater, mit dem sie Zuhause war, zunächst einfach davonlief, während ihre Mutter arbeiten war. Demna ist als Kind aus Abchasien geflohen, wo die georgische Minderheit verfolgt wurde, und traumatisiert, Nia ist Schauspielerin in Georgien und hat sich mit diesem Konflikt und Krieg nie wirklich beschäftigt. Gabi leidet nun am Resignationssyndrom, einem Phänomen, das viele Kinder insbesondere von Menschen mit Fluchterfahrung betrifft, die ohne gesicherten Aufenthaltsstatus in einem fremden Land leben müssen. Die Kinder schlafen einfach ein und wachen nicht mehr auf, ein Aufwachen geschieht meistens erst, wenn Sicherheit gegeben ist, der Status geklärt ist, ein Heim entstehen kann. Die Psyche ist ein erstaunliches Ding – denn dieses Syndrom ist, wie die historischen Hintergründe des Romans, keine Fiktion.
Mit dem Erdbeben kam auch ein Riss in Nias Haus ,und es wurde unbewohnbar. Der Riss setzt sich fort in ihrer Beziehung, denn Nia kann Demna nicht verzeihen, gibt ihm die Schuld an Gabis Zustand und setzt ihn vor die Tür, lässt ihn nicht mehr zu seiner Tochter und kümmert sich nun komplett allein um Gabi – eine Vollzeitaufgabe, an der sie nur scheitern kann. An Arbeit in ihrem Beruf als Schauspielerin, an Karriere ist nicht mehr zu denken. Bis sie unverhofft die Hauptrolle in einem Film abräumt, der sich genau mit dem Georgien-Abchasien-Konflikt und der Flucht beschäftigt und ihr Leben sich komplett wendet, mit weitreichenden Folgen auch für Gabi und Demna.
Togonidze findet formal eine geniale Ebene, indem sie den Bewusstseinsstrom von Nias Gedankenwelt zunehmend immer mehr mit den Dreharbeiten und der Ebene des Filmes verknüpft und so die Flucht Demnas gewissermaßen re-enacted und uns das erzeugte Trauma miterleben lässt. Zeitgleich hat der Film auf Nia eine kathartische Wirkung. Gekoppelt mit einer zusätzlichen rein erzählerischen Handlungsebene, in der wir immer wieder auch in die Vergangenheit springen, entsteht hier ein sehr komplexes, durchaus herausforderndes, aber in jedem Augenblick sinnstiftendes und oft sehr poetisches Konstrukt, das ich in dieser Form noch nicht gelesen habe. Als Westeuropäerin ist der Georgien-Abchasien-Konflikt definitiv ein blinder Fleck bei mir, auch das Resignationssyndrom war mir vollkommen unbekannt. Ich bin der Autorin mehr als dankbar, dass ich dieses Wissen in einer so erstaunlichen literarischen Form auffüllen durfte. Über die Filmebene kommt Nia in die Reflektion und wir Lesenden mit ihr – und die Reflektion erzeugt Öffnung und Veränderung. In Schichten erklärt sich immer mehr, was eigentlich geschehen ist und wir blicken auf ein transgenerationales Trauma, auch so ein spannendes Thema, das nur sehr vorsichtig angefasst und aufgelöst werden kann.
Für mich sind zentrale Themen des Romans zum einen, wie viele Parallelwelten doch existieren neben der Welt, die wir jeden Tag zu Gesicht bekommen, Dinge, die wir nicht sehen, weil wir sie nicht kennen, nicht miterleben, die aber für andere Menschen so lebensbedeutend sind. Das Thema Trauma und Schuld, das niederdrückend durch den Roman weht, das Thema Sprachlosigkeit, wie viele Dinge haben sich Demna und Nia auch schon nicht erzählt, während sie „glücklich“ waren? Das Thema des Nebeneinanders von Trauer und Leben, wie wichtig ist es, auch in der Trauer das Leben aktiv zu halten, wie wenig Hilfe gibt es, wenn wir das vernachlässigen. Ganz groß auch das Thema Hoffnung und Beharrlichkeit, sich durchbeißen, dranbleiben. Mutterschaft und Selbstaufgabe, das hat mich auch sehr beschäftigt. Ein sehr reiches Buch, das immer wieder auch deutlich macht, dass es nicht Rechtens sein kann, wenn Menschen, die in Sicherheit leben, anderen eben diese Sicherheit verwehren.
Einziger Makel für mich: das Ende, das mir zu sehr versucht, Heilung zu bringen, während der Prozess doch eigentlich gerade erst beginnt. Das ist vielleicht Geschmackssache, war mir persönlich aber deutlich zu viel Kitsch, was gar nicht zu diesem fragilen Buch passt. Das werden aber viele Menschen ganz anders sehen und in jedem Fall: Unbedingt lesen, blinde Flecken tilgen, sich berühren lassen und vor allem: Diesen literarischen Genius hemmungslos bewundern. Und übrigens noch viel mehr Bücher aus dem Septime Verlag lesen, der ganz grundsätzlich eine herausragende Arbeit macht!