Heinz Dürr erinnert sich: Während er bei seiner Verabschiedung als Chef der Deutschen Bahn den Lobeshymnen der Festredner lauscht, lässt der gebürtige Schwabe sein Leben Revue passieren. Er erzählt von den Anfängen als Unternehmer in der väterlichen Firma, der er zu weltweiter Geltung verhalf, von den schwierigen Zeiten im AEG-Konzern, den er nur knapp vor dem Konkurs bewahrte, und schließlich von der größten Herausforderung seines Berufslebens - dem Posten als Bahnchef, der nach 1990 Deutsche Bahn und DDR-Reichsbahn zusammenführen musste. Mit Witz, Ironie und vielen Anekdoten schildert Dürr die Begegnungen mit den Großen aus Wirtschaft, Politik und Kunst, aber auch seine Erfahrungen im Umgang mit den "kleinen Leut", die dem Unternehmer zeitlebens wichtig blieben. Seine Erinnerungen erzählen zugleich sechzig Jahre bundesdeutscher Geschichte - von der Währungsreform und dem Wirtschaftswunder bis hin zur Wiedervereinigung und der Globalisierung, deren Folgen für die kapitalistischeWelt Heinz Dürr heute mit wachsender Kritik sieht. Sein Buch ist der Lebensbericht eines Mannes, der stets von der Lust getrieben war, Wege jenseits ausgetretener Pfade zu suchen - und für den die Faszination der Macht vor allem darin lag, Dinge bewegen zu können.
VON JÜRGEN JESKE
Zu seinen besten Zeiten war er weithin bekannt. "Schau mal, der Dürr", sagten die Leute. Heute fragen Jüngere: "Dürr, wer?" Dabei wacht der 75 Jahre alte schwäbische Unternehmer als Aufsichtsratschef noch immer über die Geschicke des Familienunternehmens Dürr AG, das er zum Weltmarktführer von Produktionstechnik für Autos und Flugzeuge ausgebaut hat.
In den achtziger Jahren hatte Dürr den angeschlagenen zweitgrößten deutschen Elektrokonzern AEG vor dem Konkurs bewahrt, auch wenn er ihn später nicht endgültig retten konnte. 1991 holte ihn Bundeskanzler Helmut Kohl an die Spitze der Bundesbahn, wo er nicht nur entscheidende Weichen gestellt hat für das Jahrhundertwerk der Bahnreform, sondern auch mit seinem Kommunikationstalent die schwierige Zusammenführung der ostdeutschen Reichsbahn mit der Bundesbahn gemeistert hat.
Bei seiner Verabschiedung feierte ihn Kohl als erfolgreichen Unternehmer und realistischen Optimisten, der seine Pflicht für das Land getan habe. Nach 2000 hat Dürr schließlich noch die Zeiss-Schott-Gruppe saniert und eine Krise seines Familienkonzerns überwunden.
Warum schreibt Dürr jetzt Erinnerungen, die immer wieder nach Rechtfertigung klingen? Warum der provokante Titel "In der ersten Reihe - Aufzeichnungen eines Unerschrockenen" (wjs Verlag Wolf Jobst Siedler jr., Berlin 2008, 366 Seiten)? Fühlt er sich verkannt, weil ihm die AEG-Rettung nicht gelang, weil die Bahnreform inzwischen mit dem Namen Mehdorn verbunden wird, weil er nicht mehr in der ersten Reihe sitzt? "Für dich sind drei Dinge wichtig: Macht, Tatendrang und Anerkennung", hat seine sehr eigenständige Frau einmal gesagt. Fehlt ihm da jetzt etwas?
Dürrs Aufzeichnungen sind gleichwohl ein erhellender Einblick in die alte Deutschland AG. Zugleich ist das Buch ein amüsantes Selbstporträt eines der farbigsten deutschen Unternehmer, eines neugierigen, ungeduldigen, kulturell vielseitig interessierten Menschen, dessen Idealbild bis heute Walther Rathenau ist. Rathenau, der 1922 von Rechtsradikalen ermordete Außenminister, war der Sohn des AEG-Gründers und hatte sich als Großindustrieller und Organisator der Kriegswirtschaft und Politiker ebenso einen Namen gemacht wie als zeitkritischer Schriftsteller, der die Wirtschaft in dienender Funktion gegenüber Staat und Gemeinschaft sah, Gedanken, die auch Dürr bewegen.
Dürr ist unerschrocken, das stimmt. Er war es jedoch, wie er schreibt, mit der Unschuld und Naivität eines Parsifal auf der Suche nach dem Gral und der eigenen Erlösung. Sonst hätte er manches nicht gewagt. Der schlaksige, wie ein älterer Student wirkende Unternehmer ist freilich ein durch und durch schwäbischer Parsifal geblieben. Geboren als Sohn eines Metallbaufabrikanten in Stuttgart, wollte Dürr nach Abitur und Weltverbesserungsschwärmereien wie sein Vater Unternehmer werden. Eine Lehre als Stahlbauschlosser brach er ebenso ab wie ein Maschinenbaustudium, weil sie ihn nicht schnell genug zum Ziel führten. "Geschadet hat mir das eigentlich nicht", meint er heute. Auch als Angestellter im Familienbetrieb will er bald mehr. Eine mögliche Erklärung findet sich in einer Bemerkung über den Vater: "Kein Vorbild, wie ich es mir vorstellte, aber einer, dem ich immer zeigen wollte, was ich kann."
1975 wird Dürr als Nachfolger von Hanns Martin Schleyer Vorsitzender des Metallarbeitgeberverbands Nordwürttemberg/ Nordbaden, wo er "Impulse für eine fortschrittliche Gesellschaft" zu geben hofft. Mit dem höchst umstrittenen Tarifkompromiss von 1978 und Franz Steinkühler von der IG Metall als Gegenspieler wird Dürr bundesweit bekannt. Er lernt unter anderen den legendären Bosch-Chef Hans L. Merkle kennen. Auf dessen Anregung holen ihn 1979/80 die genervten Banken zur krisengeschüttelten AEG. Der Flaschnermeistersohn als Konzernchef? "Das erschreckte mich eigentlich nicht." Was folgt, sind mühevolle Sanierungsversuche, Gezerre der Geldhäuser, gescheitertes Zusammengehen mit der britischen GEC, schließlich der spektakuläre Vergleich mit 1,1 Milliarden Mark Bundesbürgschaft, die verzinst, aber nicht in Anspruch genommen wird. Dann 1985 die aufsehenerregende Übernahme der AEG-Mehrheit durch den Autokonzern Daimler-Benz. Doch die Daimler-Vision des "integrierten Technikkonzerns" scheitert ebenso wie die Integration der AEG. Dürr ist jedoch mit der Transaktion in die Führungsetage des damals mächtigsten und feinsten deutschen Industriekonzerns aufgerückt.
Aus dem Buch wird noch einmal deutlich, wie sehr seinerzeit Vorstellungen von "marktorientierter Industriepolitik" die deutsche Wirtschaft prägten, Vorstellungen, die Dürr heute noch für richtig hält. Über die "unsichtbare Hand des Marktes" des liberalen Klassikers Adam Smith hat Dürr oft und gern gespottet. Für ihn sind Unternehmen in erster Linie "gesellschaftliche Veranstaltungen", inzwischen fügt er hinzu: zum Zweck der Gewinnerzielung. Es überrascht daher nicht, dass Dürr den "gemeinschaftlich organisierten Kapitalismus" der Deutschland AG gegenüber dem kurzfristig orientierten und kapitalmarktgetriebenen angelsächsischen Kapitalismus verteidigt und dessen Protagonisten attackiert.
Dürrs Buch ist, wie er selbst, gut bestückt mit Zitaten. Zum Beispiel von Samuel Beckett: "Immer versucht. Immer gescheitert. Einerlei: Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern." Eines seiner Lieblingszitate, in dem sich Dürr selbst sieht, fehlt jedoch: die Bemerkung von Albert Camus, dass der Steine bergauf wälzende Sisyphos eigentlich ein glücklicher Mensch gewesen sei.
Heinz Dürr: "In der ersten Reihe - Aufzeichnungen eines Unerschrockenen" (wjs Verlag Wolf Jobst Siedler jr., Berlin 2008, 366 Seiten
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