Auf einer Insel, nicht weit vom Festland entfernt, prägen sonderbare Ereignisse das Leben. In regelmäßigen Abständen verschwinden Dinge, und zwar für immer. Zunächst sind es Hüte, dann alle Vögel, später die Fähre. Bald gibt es keine Haarbänder mehr und keine Rosen ... Die Bewohner haben sich damit abgefunden, dass auch ihre Erinnerung immer weiter verblasst. Nur einige wenige können nichts vergessen. Deshalb werden sie von der Erinnerungspolizei verfolgt, die dafür Sorge trägt, dass alle verschwundenen Dinge auch verschwunden bleiben, nicht nur im alltäglichen Leben, sondern auch in den Köpfen der Menschen.
Als eine junge Schriftstellerin herausfindet, dass ihr Verleger Gefahr läuft, von der Erinnerungspolizei festgenommen zu werden, beschließt sie, ihm zu helfen - auch wenn sie damit ihr Leben riskiert. Sie richtet im Untergeschoss ihres Hauses ein Versteck für ihn ein. Doch die Razzien der Polizei werden ständig ausgeweitet, und immer häufiger verschwinden Dinge. Die beidenhoffen auf die Fertigstellung ihres neuen Romans als letzte Möglichkeit, die Vergangenheit zu bewahren.
Yoko Ogawas internationaler Bestseller ist eine faszinierende Parabel über den Verlust von Freiheit und die Bedeutung der eigenen Vergangenheit. Selten werden die drängenden Fragen unserer Zeit so poetisch verhandelt wie hier.
Als eine junge Schriftstellerin herausfindet, dass ihr Verleger Gefahr läuft, von der Erinnerungspolizei festgenommen zu werden, beschließt sie, ihm zu helfen - auch wenn sie damit ihr Leben riskiert. Sie richtet im Untergeschoss ihres Hauses ein Versteck für ihn ein. Doch die Razzien der Polizei werden ständig ausgeweitet, und immer häufiger verschwinden Dinge. Die beidenhoffen auf die Fertigstellung ihres neuen Romans als letzte Möglichkeit, die Vergangenheit zu bewahren.
Yoko Ogawas internationaler Bestseller ist eine faszinierende Parabel über den Verlust von Freiheit und die Bedeutung der eigenen Vergangenheit. Selten werden die drängenden Fragen unserer Zeit so poetisch verhandelt wie hier.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Steffen Gnam liest Yoko Ogawas Romandystopie um einen totalitären Staat, der seinen Bürger unter Strafe die Erinnerung verbietet, und eine Schriftstellerin und ihren Lektor, die sich dagegen stemmen, als Plädoyer für die subversive Kraft der Literatur. Die Darstellung von Erinnerungspolizisten und "kafkaesken Behörden" gemahnt Gnam an den Nationalsozialismus wie an die chinesische Kulturrevolution. Ein immens politischer Text, findet Gnam.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Die unerträgliche Leichtigkeit des Vergessens: Yoko Ogawas Roman "Insel der verlorenen Erinnerung" imaginiert ein totalitäres Staatsgebilde
Eine Insel ist dem Vergessen anheimgefallen. Nach und nach verschwinden die Dinge und Essenzen des täglichen Lebens wie Hüte, Rosen, Glocken, Parfüm, Vögel oder eine Fähre und mit ihnen die Erinnerung ihrer Aura, Namen und Funktion.
Die Prosa Yoko Ogawas kreist um Einbrüche des Sonderbaren und Absonderlichen oder dunkler Parallelwelten und Mächte in den uniformen Alltag, um Auslöschungsphantasien und Amnesien der Empathie. Ihr in Japan 1994 erschienener, für den letztjährigen International Booker Prize nominierter Roman "Insel der verlorenen Erinnerung" ist als Dystopie eines totalitären Staates ungewohnt politisch.
Wenn Dinge verschwinden, gilt es für die Bewohner, sich ihrer Überreste zu entledigen. Wer sich dennoch ihrer entsinnen kann, gerät ins Visier der "Erinnerungspolizei". Die Mutter der namenlosen Erzählerin, eine Bildhauerin, die in Hohlräumen von Skulpturen Fragmente der Vergangenheit (das Ticket einer Fähre, Brausetabletten) verbarg, wurde bereits fünfzehn Jahre zuvor von einem Spezialkommando abtransportiert. Der protestlose Berufswechsel - ein Hutmacher fertigt nach dem Verschwinden der Hüte Regenschirme, eine Kosmetikerin wird Hebamme - offenbart die unerträgliche Leichtigkeit des Vergessens: Wahn wird Routine, das Böse Formsache.
Die der deportierten Mutter verpflichtete Heldin, eine Romanautorin, schließt sich mit ihrem Lektor als letztem Unbeugsamen und Erinnerungsbegabten kurz. Sie beschließt, ihn in einer Kammer ohne Tageslicht in ihrem Haus zu verstecken. Mit ihm möchte sie ihren Roman vollenden, als Reservoir der Erinnerungen und Antidot zum Vergessen. Nur einem alten Mann, der seinen Lebensabend auf einer ausrangierten Fähre verbringt, erzählt sie das Geheimnis. Als ihr Vertrauter zieht er nach einem Tsunami in ihr Haus, wo beide gemeinsam nun den Lektor in seinem Refugium umsorgen.
Neben dem Nationalsozialismus und Anne Frank als Schlüssellektüre der jungen Yoko Ogawa evoziert das Buch im Zerstören dekadenter Objekte die chineische Kulturrevolution. Es zeichnet zeitlose Allegorien und Infrastrukturen der Bürgerbewertung wie eine kafkaeske Behörde und labyrinthartige "Organisation" mit komplexem Verwaltungsapparat und eigenem Alphabet. Surreale Diktaturbeschwörungen im Text sind Zahnradgetriebe, die Mishimas Roman "Tempelbrand" beschwörende Schönheit der brennenden Bibliothek und erloschene Leuchttürme.
Mit dem Kunstgriff des Romans im Roman - über eine Stenotypistin, die ihre Stimme verlor - überblendet Yoko Ogawa Ohnmachtserzählungen von Abhängigkeit und Unterwerfung. Im Reich der erkalteten Sinne vermag die Schriftstellerin durch das "intakte Herz" ihres Lektors und Liebhabers den Roman im tragischen Finale zu vollenden: Yoko Ogawa deutet eine wiedererlernte Menschwerdung und Weltrettung durch Künstler und Untergrundkämpfer an. Ihr Buch ist ein unwiderstehliches Plädoyer für die subversive Kraft der Literatur: "Ich fragte mich, was wäre, wenn eines Tages die Wörter verschwinden würden. Aber nur im Stillen. Weil etwas wahr werden kann, sobald man es laut ausspricht."
STEFFEN GNAM
Yoko Ogawa: "Insel der
verlorenen Erinnerung".
Roman.
Aus dem Japanischen von Sabine Mangold. Verlagsbuchhandlung Liebeskind, München 2020. 352 S., geb., 22,- [Euro].
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