Dieser autofiktionale Roman ist die Geschichte ihrer mütterlichen Familie, die Autorin Sasha Colby, soweit es möglich war, akribisch recherchiert hat und nun gekonnt erzählt.
Alles beginnt im Jahr 1942 als die junge Ukrainerin Irina Kylynych im Alter von 19 Jahren wie Hunderttausende ihrer
Landsleute zur Zwangsarbeit in Nazi-Deutschland verschleppt wird. Nach tagelanger Irrfahrt kommt sie in…mehrDieser autofiktionale Roman ist die Geschichte ihrer mütterlichen Familie, die Autorin Sasha Colby, soweit es möglich war, akribisch recherchiert hat und nun gekonnt erzählt.
Alles beginnt im Jahr 1942 als die junge Ukrainerin Irina Kylynych im Alter von 19 Jahren wie Hunderttausende ihrer Landsleute zur Zwangsarbeit in Nazi-Deutschland verschleppt wird. Nach tagelanger Irrfahrt kommt sie in Wetzlar an und hat „a bisselchen Glück“ wie sie später immer wieder sagen wird. Irina wird der Verpackungsabteilung der Leitzwerken zugeteilt, lernt recht schnell die deutsche Sprache und wird nach einigen Wochen in den Haushalt von Elsie Kühn-Leitz übernommen. Dort muss sie miterleben, wie Elsie Kühn-Leitz 1943 von der Gestapo verhaftet wird, weil sie ihre Zwangsarbeiter „übertrieben menschlich“ behandelt.
Irina lernt ihren Mann Sergei kennen, bekommen ihr erstes Kind Alexandre und fliehen unter falschem Namen zu Kriegsende vor den Truppen der Roten Armee und landen nach Umwegen über Displaced-People-Camps in Kanada. Denn die russischen Zwangsarbeiter werden den Sowjets übergeben, gelten aber in der UdSSR als Kollaborateure und werden in Straflager nach Sibirien gebracht oder gleich hingerichtet. Doch auch in Kanada glauben sie sich lange Jahre (noch) nicht sicher. Hier kommt Lucy zur Welt, die Sashas Mutter werden wird.
„Großmutters Vorliebe für Spitze, hat ihre eigene Geschichte, die in einem tief im Mark verankerten Glauben wurzelt, dieses Material würde den Sieg der Zivilisation über die Barbarei symbolisieren, den Sieg der Schönheit über die animalische Hässlichkeit der Armut. Als jemand, der von den Feldern der durch Stalin ausgehungerten Ukraine in ein Zwangsarbeiter in Nazi-Deutschland und dann über Displaced-Person-Camps ins Nachkriegs-Kanada gekommen war, musste sie es schließlich wissen. Im Haus meiner Großmutter ist alles voll mit Spitze - die Vorhänge, die zierdeckchen, das Tischtuch auf dem Esstisch. Sie dient als Barriere.“ (S. 15)
Sasha Colby erzählt abwechselnd in zwei Zeitebenen ihre Familiengeschichte. Zunächst steigen wir im Jahr 2011 bei den Vorbereitungen eines Festes im Hause von Irina ein, um wenig später in das Jahr 1942 nach Wetzlar zurückzukehren und Elsie Kühn-Leitz kennenzulernen. Elsie ist die Tochter von Ernst Leitz II, deren Großvater die Leitz-Werke 1869 gegründet hat. Vater und Tochter Leitz sind Gegner der Nazis und versuchen so viele Menschen zu retten wie möglich. Das gelingt mit viel Geld und Chuzpe, denn es gibt zahlreiche Leitz-Werke in den USA, die nun neue, meist jüdische Mitarbeiter erhalten. Dennoch müssen sie sich in Acht nehmen und Ernst Leitz II muss nicht nur der Partei beitreten, sondern auch optische Geräte wie Ferngläser und Kameras etc. für die Wehrmacht produzieren. Die Wochen der Haft, die Elsie Kühn-Leitz im Polizeigefängnis von Frankfurt verbringen muss, sind ihren Aufzeichnungen entnommen.
Meine Meinung:
Der Autorin gelingt es ausgezeichnet ihre gegenwärtige Familiengeschichte mit der Vergangenheit ihrer Großmutter zu verknüpfen. Dazu tragen so manche Eigenheiten von Irina wie die schon erwähnte Vorliebe für Spitze oder ihre Einkaufsgewohnheiten in den Supermärkten, die immer wieder für Augenrollen und mitunter auf Unverständnis bei Tochter und Enkelin sorgen bei. Liebevoll lässt Sasha ihre Baba (Großmutter) in dem ihrer eigentümlichen Sprache, die mich als Wienerin, ein wenig an das Jiddische erinnert, sprechen.
Dass Elsie Kühn-Leitz und ihr Vater Widerstand gegen das NS-Regime geleistet haben, ist, im Gegensatz zu Oskar Schindler, relativ unbekannt. Ich habe darüber vor Jahren gelesen. Zum einen, weil mir als Vermesserin der Konzern, der früher unter dem Namen Wild Heerbrugg Vermessungsgeräte hergestellt hat und dieses als Leica-Geosystems nach wie vor macht, und weil Leica-Kameras (neben Hasselblad) das Nonplusultra der Fotografie sind, sehr gut bekannt ist. Zum anderen habe ich bereits einige Firmengeschichten und ihre Haltung während der Nazi-Diktatur gelesen. Nicht alle Konzerne, die in dieser Zeit profitiert haben, stellen sich ihrer Verantwortung.
Fazit:
Mir hat dieser autofiktionale Roman sehr gut gefallen, was vor allem an Baba Irina liegt, die mit ihren Eigenheiten liebevoll, wie es nur eine Enkelin vermag, geschildert ist. Zahlreiche private Fotos ergänzen diese Familiengeschichte. Gerne gebe ich hier 5 Sterne.